Seit der Eskalation des Krieges fliehen viele Menschen aus der Ukraine. Die Bereitschaft, ihnen zu helfen, ist gerade auch in Deutschland sehr groß. Hilfsorganisationen, aber auch viele Privatpersonen bieten den Geflüchteten Geld, Sachwerte oder ein Dach über dem Kopf an.

Das alles ist sehr bewegend. Und doch drängt sich einem gelegentlich die Frage auf, warum erst jetzt? Sarah Vecera ist stellvertretende Leiterin der Abteilung Deutschland der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) und Bildungsreferentin mit dem Schwerpunkt "Rassismus und Kirche". Im Interview erklärt sie, warum wir eine "Empathie-Lücke" haben, wie rassistische Denkmuster unserer Sichtweise im Alltag prägen – und warum eine gute Absicht nicht immer zu Gutem führt. 

"Ich bin sehr beeindruckt von all dem Engagement der Menschen. Gleichzeitig lässt es aber auch viele Fragezeichen bei mir aufkommen."

Frau Vecera, wie erleben Sie den Umgang mit den Geflüchteten aus der Ukraine in Deutschland derzeit?

Sarah Vecera: Ich bin sehr beeindruckt von all dem Engagement der Menschen – dass Häuser geöffnet werden, dass Pakete gepackt werden, dass die Deutsche Bahn freie Fahrten anbietet. Gesamtgesellschaftlich habe ich noch nie ein so großes Engagement erlebt, das muss ich ganz ehrlich sagen. Gleichzeitig lässt es aber auch viele Fragezeichen bei mir aufkommen: Warum ist die Hilfsbereitschaft bei den Geflüchteten der Ukraine so groß, wo wir doch auch viele Flüchtlinge abgewiesen haben und das Engagement 2015 zwar auch groß war, aber lange nicht so empathisch und auch nicht so emotional, wie ich das jetzt wahrnehme?

Sarah Vecera
Sarah Vecera ist stellvertretende Leiterin der Abteilung Deutschland der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) und Bildungsreferentin mit dem Schwerpunkt "Rassismus und Kirche". Am 14. März erscheint ihr Buch "Wie ist Jesus weiß geworden? Mein Traum von einer Kirche ohne Rassismus" (Details siehe unten).

Worauf würden Sie das zurückführen?

Vecera: Es gibt leider eine Empathie-Lücke, die bereits in der Zeit der Aufklärung geschaffen wurde. Weiße europäische Menschen haben sich überlegt: Wie können wir gleichzeitig die Werte der Aufklärung, Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit hochhalten und auf der anderen Seite der Welt Menschen ausbeuten? Um diesen Widerspruch aufzulösen, hat man gesagt: Ja, diese Werte gelten für Menschen, aber nur für weiße europäische Menschen. Die anderen Menschen wurden entmenschlicht. Deshalb wurden Rassenideologien geschaffen. Die Philosophie, die Wissenschaft und auch die Kirche haben alle ihren Teil dazu beigetragen, um das moralisch und wissenschaftlich oder vermeintlich wissenschaftlich zu untermauern.

Und das wirkt heute noch, sagen Sie?

Vecera: Ja, das finden wir heute noch, beispielsweise in Filmen. Selbst in Filmen, in denen Schwarze vorkommen, sind es meistens weiße Held*innen, mit denen wir uns identifizieren. Oder in Kinderbüchern: Die Heldinnen meiner Tochter sind "Bibi und Tina", "Meine Freundin Conny" oder "Die Eiskönigin Elsa" – alles weiße Menschen, bereits im Kindergarten. Daran orientieren sich die Kinder dann natürlich, obwohl 41 Prozent aller Kinder unter sechs Jahre eine Migrationsgeschichte haben.

Ist es denn wenigstens in der Kirche besser aufgestellt?

Vecera: Leider nur bedingt. Auch in den Kinderbibeln oder auf den Porträts in den Kirchen werden Menschen fast ausschließlich weiß dargestellt, obwohl eigentlich klar ist, dass die meisten Figuren der Bibel nicht weiß waren, außer den Römern. Und trotzdem stellen wir sie weiß dar, weil weiße Europäer*innen sich mit ihnen identifizieren sollen und weil damit auch ein Machtanspruch einhergeht.

"Bei der BBC wurde hervorgehoben, dass es sich um Menschen mit blauen Augen und blonden Haaren handelt, bei CBS wurde gesagt, dass das nicht Irak und Afghanistan sei, sondern ein zivilisiertes Land."

Und wie schlägt sich das nun in der aktuellen Situation nieder?

Vecera: Heute macht sich das bemerkbar, weil Weißsein darüber mitentscheidet, bei welchen Themen wir mitfühlen: Das sind wir in Europa und alles andere sind die anderen. Und der Krieg in der Ukraine hat eben Europa getroffen. Das schlägt sich dann in der Berichterstattung nieder: Bei der BBC wurde hervorgehoben, dass es sich um Menschen mit blauen Augen und blonden Haaren handelt, bei CBS wurde gesagt, dass das nicht Irak und Afghanistan sei, sondern ein zivilisiertes Land. Im Telegraph wurde betont: Das sind Menschen, die gucken Netflix und haben Instagram.

Also "wir" versus "Die anderen".

Vecera: Genau, wir merken das sehr oft gar nicht. Ich habe unsere Nachbarin letzte Woche auf der Straße getroffen – sie ist Mitte 70, weiß – und die sagte zu mir: "Das ist aber auch erschreckend. Wissen Sie, die sind so nah, die kommen jetzt mit dem Zug zu uns." Geflüchtete aus Afghanistan, Iran und Syrien sind teilweise gelaufen. Aber die Vorstellung ist: Die anderen sind so weit weg und die sind so nah dran.

"Gerade ukrainische Frauen sind ja auch von Rassismus betroffen."

Dabei war die Ukraine vor dem Krieg in der Wahrnehmung vieler gar nicht so nah: Ein rückständiges Ostblock-Land, in dem alle zu viel Wodka trinken und kriminell sind, war eher das Bild.

Vecera: Ja, da bin ich auch mal gespannt, wie sich das weiterentwickelt. Also man hört ja auch, aus Syrien kamen nur Männer, die ihre Frauen und ihre Kinder im Stich gelassen haben. Jetzt kommen Frauen und Kinder – und gerade ukrainische Frauen sind ja auch von Rassismus betroffen.

Obwohl sie weiß sind?

Vecera: Wenn man sagt, es gäbe keinen Rassismus gegen Weiße, entspricht das auch nicht ganz der Wahrheit. Antislawischer Rassismus ist auch eine Form von Rassismus. Und der antislawische Rassismus bei Frauen äußert sich vor allem darin, dass diese Frauen stark sexualisiert werden, und zwar anders als etwa italienische oder französische. Der slawische Mann gilt als sehr hart und die Frau ist in dieser Vorstellung quasi der Gegenpol dazu. Sie ist kinderlieb, fleißig im Haushalt, bei der ist alles sauber. Dazu entspricht sie dem Schönheitsideal: blond, schlank. Sie ist nicht feministisch-zickig, aber trotzdem sexy. Also ein Idealbild der Frau, die patriarchalen Strukturen unterworfen und hilfsbedürftig ist. Deswegen wirkt diese Form des Rassismus besonders auf ukrainische Frauen.

"Ich wünsche mir, dass wir daraus lernen, dass alle Menschen, die flüchten, Zuflucht brauchen."

Haben Sie den Eindruck, dass es für diese Kritik an Strukturen und Denkmustern gerade Raum gibt?

Sarah Vecera: Es ist ganz schwer, in diesem Zusammenhang Kritik zu äußern. Gerade in der Kirche ist es verpönt, Hilfe auch in Frage zu stellen. Ich betone deshalb nochmal: Ich bin wirklich sehr berührt davon, dass Menschen da helfen. Das ist toll. Aber gleichzeitig wünsche ich mir, dass wir daraus lernen, dass alle Menschen, die flüchten, Zuflucht brauchen. Ich wünsche mir, dass die Leute daraus lernen, dass wir eigentlich helfen können, dass hier Platz für viele ist. Und gleichzeitig wünsche ich mir, dass diese Art der Kritik respektiert wird. In der Kirche wird häufig betont, dass die Absicht zählt. Und die Absicht ist gerade: Wir wollen helfen. Wie kann man denn da kommen und wieder nur meckern? Aber gerade Rassismus wirkt ja auch dadurch, dass die Absicht gar nicht im Mittelpunkt steht.

Können Sie das erklären?

Vecera: Wenn Person A Person B unbeabsichtigt die Beine bricht, bei einem Unfall, würden wir uns immer zuerst um das gebrochene Bein kümmern und nicht um Person A, die jetzt dasteht und beteuert: Das war nicht so gemeint. Bei Rassismus ist es aber so, dass wir Person A in den Fokus nehmen und sagen, das war ja gut gemeint. Bei guter Absicht ist es schwer, das zu entlarven und zu enttarnen. Dass eine gute Absicht nicht immer gut gemeint ist, das ist ein Spruch, den wir zwar sagen, aber der bei Rassismus irgendwie ausschalten. Gleichzeitig hält diese Kritik an Rassismus, die man nicht üben darf, das System aufrecht.

Warum fällt es so schwer, das aufzubrechen?

Vecera: Eine selbstkritische Auseinandersetzung damit würde ja viel infrage stellen, auch die Kirche. Aber natürlich erkenne ich, dass hinter dieser Verweigerung auch echter Schmerz steckt: Ich helfe jetzt gerade, ich packe Care-Pakete, nehmen geflüchtete Menschen aus der Ukraine auf – und dann kommt eine daher und sagt mir, da gibt es aber auch noch ein anderes Problem.  Das sind ja auch echte Gefühle.

"Wir müssen Wege finden, wie wir sensibel über dieses strukturelle Problem sprechen, ohne uns Schuld zuzuweisen und uns gleichzeitig in gnädiger Nächstenliebe begegnen können."

Wie lösen Sie dieses Dilemma auf?

Vecera: Wir müssen sensibel darüber reden und vor allem in den Fokus nehmen, dass das gut ist, was die Leute jetzt machen und dass wir daraus lernen können, in Zukunft allen Menschen diese Zuflucht zu gewähren. Wir können in der Kirche auch eine andere Form von Dialog miteinander führen, wenn wir über Rassismus reden. Ich greife ja nicht einzelne Menschen an, die helfen, sondern ich beobachte ein Phänomen, und das ist strukturell verankert, in unserem Bildungssystem, in der Polizei, in unserer Gesamtgesellschaft, in Kinderbüchern, in Medien und so weiter. Wir müssen Wege finden, wie wir sensibel über dieses strukturelle Problem sprechen, ohne uns Schuld zuzuweisen und uns gleichzeitig in gnädiger Nächstenliebe begegnen können.

Wie ist Jesus weiß geworden? Mein Traum von einer Kirche ohne Rassismus

Sarah Vecera

Von Anfang an war die Kirche für alle Menschen gedacht. Trotzdem gibt es auch in ihr rassistische Strukturen, die weißen Menschen meistens gar nicht auffallen. Sarah Vecera macht auf diese Strukturen aufmerksam und erklärt, wie jeder und jede etwas dagegen tun kann. So will sie ermutigen, im Sinne des christlichen Glaubens eine Kirche zu gestalten, in der sich jede*r willkommen und angenommen fühlt.

Verlag: Patmos-Verlag

ISBN: 978-3843613521

Seitenzahl: 200 Seiten

Preis: 19,00 €

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