Bewegt von Christi Liebe

Direkt nach dem Theologiestudium kehrt Mathilde Sabbagh nach Syrien zurück, um die Kirche ihres Heimatdorfs zu leiten. Mitten in die Wirren des Krieges. Denn ihr Herz und ihre Berufung treiben sie an.

Sie hat sie aufgehoben, die Bombe, die am Tag ihrer Rückkehr nach Syrien in ihre Heimatstadt Hassakeh ihr Haus traf. Als Erinnerung. Denn sie ist hierher zurückgekehrt, um Gottes Liebe und Versorgung zu den Menschen ihrer geschundenen Heimat zu bringen. Inzwischen ist Mathilde Sabbagh bereits seit über fünf Jahren hier. Sie ist verheiratet, Mutter von fast zweijährigen Zwillingen, und sie ist Pfarrerin. Die erste in den kurdischen Gebieten im Nordosten Syriens. Sie gehört der Nationalen Evangelischen Synode in Syrien und Libanon (NESSL) an, die in. Syrien 18 Gemeinden mit rund 10.000 Gemeindegliedern umfasst. Hinzukommen noch rund 6.000 Gemeindemitglieder im Libanon.

Mathilde Sabbagh, Pfarrerin in Syrien © Foto: privat | Mathilde Sabbagh, Pfarrerin in Syrien

Im Libanon hat Mathilde Sabbagh auch Theologie studiert. Ihre dunkelbraunen Augen funkeln hinter der großen Brille, wenn sie davon erzählt, wie es dazu kam: „Mit 13 habe ich über meinen zukünftigen Beruf nachgedacht. Ich habe mich gefragt, an welchem Ort ich wirklich Freude empfinde. Da habe ich gemerkt, dass das die Kirche ist. Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, irgendwo anders zu arbeiten.“

Doch als erste Pfarrerin in der von Krieg und Konflikten gebeutelten Region hat sie es zunächst schwer. Der frühere Pfarrer von Hassakeh und etliche Gemeindeglieder sind geflohen. Geblieben sind die, die nicht fliehen konnten: hauptsächlich Alte und Arme. Die Gemeinde droht unterzugehen. Mit ihren 26 Jahren und gerade frisch von der Uni, glauben nur wenige daran, dass diese junge Frau ihnen helfen kann. „Die Gemeinde sagte: Wenn es schon Männer nicht können, wie dann erst eine Frau“, beschreibt Sabbagh ihren Start.

Beirren lässt sie sich davon jedoch nicht. Denn sie hat ein großes Vorbild: „Mein Vater, den ich bis zum heutigen Tage verehre, war hier Ältester der Gemeinde und Leiter der Schule. Er hat dafür gesorgt, dass hier eine evangelische Kirche gebaut wurde und hat in mir den Samen gepflanzt, Pfarrerin zu werden.“

„Erst wenn die materiellen Bedürfnisse befriedigt sind, können die Menschen auf das Wort Gottes hören“

Jeden Sonntag steht sie nun auf der Kanzel, wenn die Gemeinde sich zu Gottesdiensten versammelt. Zudem liegt ihr die Kinder- und Jugendarbeit besonders am Herzen.

Die Arbeit in einer so armen und umkämpften Gegend bringt trotz Sabbaghs Mut, große Herausforderungen mit sich. Ihr schlagen Vorurteile und Misstrauen entgegen. Die Pfarrerin stellt fest, dass sie hier ganz anders predigen muss, als sie es im Studium gelernt hat. Und sie muss Wege finden, den Menschen auch ganz praktisch zu helfen. „Erst wenn die materiellen Bedürfnisse befriedigt sind, können die Menschen auf das Wort Gottes hören“, führt sie aus, während sie sich die langen Haare aus dem Gesicht streicht.

Dabei schien es 2018 schon Hoffnung zu geben. Das eigentlich fruchtbare Land erholte sich, und die Menschen fingen an, sich wieder eine Zukunft aufzubauen. Doch mit dem Abzug der US-Truppen, Ende 2019, kam es zum Konflikt zwischen der Türkei und den Kurden und mit ihm zu kriegerischen Handlungen und Versorgungsengpässen. Auch das Pfarrhaus und die Kirche geraten schon mal unter Beschuss. Einmal musste sie mit ihrer Familie mehrere Tage im Bad (das einzige Zimmer ohne Fenster) ausharren. Es gibt oft nur nachts Strom, und auch Wasser ist knapp, denn die einzige Wasserquelle wird durch türkische Truppen kontrolliert.

Umso wichtiger ist es für Sabbagh, den Menschen die Hoffnung wiederzugeben. Denn Flucht ist aus ihrer Sicht auch keine Lösung, denn sie geht mit dem Verlust der Heimat einher. Gemeinsam mit ihrem Ehemann organisiert die Theologin daher auch praktische Hilfe. Durch ihr Engagement erhalten inzwischen 400 Familien täglich Lebensmittel, Hygieneartikel und Schulmaterial. Und die Hilfe geht so weit über ihre eigene kleine Gemeinde hinaus, die ursprünglich nur etwa zehn Familien umfasst. Und dennoch ist es nicht genug. In der Gegend leben weitaus mehr christliche Familien, die Hilfe bräuchten, und hinzukommen auch noch Flüchtlinge aus Gegenden, die noch schlechter dran sind.

„Ich bin die einzige Geistliche in Hassakeh, die tanzen kann.“

Für Kinder und Jugendliche, von denen viele ihre Eltern im Krieg verloren haben, oder von ihnen zurückgelassen wurden, organisiert sie Kindergottesdienste, Bibelstunden und Jugendgruppen. Die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die zu diesen Angeboten kommen, wächst stetig an, denn sie kommen gern. Die wenigsten sind dabei aber aus der eigenen evangelischen Kirche. Aber gerade diese für alle Konfessionen offene Kinder- und Jugendarbeit ist es, die trotz ihres sichtbaren Nutzens, bei den anderen ansässigen Kirchen (syrisch-orthodox, griechisch-orthodox, chaldäisch, katholisch) das Misstrauen weckt.

Dieses Misstrauen wird zudem durch die Tatsache befeuert, dass Sabbaghs Ehemann der syrisch-orthodoxen Kirche den Rücken gekehrt hat, und für sie Protestant geworden ist. Dabei geht es Mathilde Sabbagh gar nicht darum, dass die Kinder konvertieren sollen. Ihr geht es darum, ihnen Hoffnung zu schenken und um ein friedliches Zusammenleben, und da seien Konflikte der christlichen Kirchen untereinander völlig kontraproduktiv.

Sie will die junge Generation einfach nicht verloren geben und lädt zu einem fast „normalen“ Leben ein, in das auch Ausflüge, Partys, Computerkurse, Sport und Gespräche über Ernährung und Sexualität gehören. „Mit den Mädchen tanze ich gerne: Ich finde es schön, wenn sie sich zu diesen Gelegenheiten ‚fein‘ machen und stolz auf sich sind“, freut sich die optimistische Frau. „Ich bin die einzige Geistliche in Hassakeh, die tanzen kann.“ Doch Sabbagh könnte sich nicht um die Kinder und Jugendlichen kümmern, wenn sie nicht ihre Mutter hätte, die sie bei den Zwillingen unterstützt.

„Ich erlebe hier tagtäglich, dass die Liebe Christi die Welt und das Leben jedes einzelnen Menschen verwandeln kann.“

Und dann ist da noch diese andere Sache: Denn, obwohl Mathilde Sabbagh alle Prüfungen bestanden hat, ist sie noch nicht ordiniert. Erst war Krieg und dann kam auch noch Corona. Und Corona ist auch der Grund, warum Mathilde Sabbagh im Sommer 2020 beinahe nicht nur ihren Optimismus verliert. Denn das Virus macht weder vor der Region um Hassakeh, noch vor ihr selbst halt. Sie infiziert sich mit Covid-19, erholt sich aber nach einiger Zeit wieder. Doch Corona heizt das Elend um sie herum weiter an. Immer mehr Menschen fliehen.

Manchmal, wenn sie besonders niedergeschlagen ist, fragt sie sich schon, ob auch sie ihren Kindern zuliebe gehen sollte. Doch sie will die Menschen ihrer Gemeinde, und Hassakeh, das so tief in ihrem Herzen verwurzelt ist, nicht allein lassen. Sie möchte den Menschen vermitteln, dass es einen Sinn hat, dass Gott sie an diesen Platz in der Welt gestellt hat. „Ich erlebe hier tagtäglich, dass die Liebe Christi die Welt und das Leben jedes einzelnen Menschen verwandeln kann. Wir können hier als Kirche und Gemeinde so viel bewirken. Ich glaube fest daran, dass mich Gott an diesen Ort gestellt hat und mir hier einen Auftrag gegeben hat. Ich bete jeden Tag, dass Gott mir die Kraft gibt, für mein Amt in der Gemeinde. Ich möchte die Liebe Gottes weitergeben an alle, die ihrer bedürfen.“

Mathilde Sabbagh sieht sich als Teil einer jahrhundertealten Tradition von Christ*innen, die die Geschichte und Gegenwart des Mittleren Ostens geprägt haben. Sie glaubt fest daran, dass die Christ*innen mit Gottes Hilfe dort auch weiterhin eine Zukunft haben. Aber sie hofft auch, dass ihre Kinder ihr die Entscheidung zu bleiben nicht irgendwann übelnehmen werden: „Schließlich ist das meine Berufung, nicht ihre.“

von Almut Nothnagle und Tanja Stünckel für das EMW-Themenheft 2021


Zur Person

Mathilde Sabbagh arbeitet als Pfarrerin in einer Gemeinde in den kurdischen Gebieten im Nordosten Syriens. Sie gehört der Nationalen Evangelischen Synode in Syrien und Libanon an.

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