Dialog als Weg zur Einheit und Versöhnung

Brasilien ist mit 213 Millionen Einwohner*innen ein Land unterschiedlicher Ethnien, Kulturen und religiöser Traditionen, ein Land mit einer reichen sozio-biologischen Vielfalt. Obwohl die offizielle Sprache Portugiesisch ist, haben 164 indigene Sprachen die Kolonialherrschaft überlebt sowie Dialekte von Einwanderer*innen aus Europa und Afrika – und mit ihnen eine Vielzahl von nicht christlichen Religionen und spirituellen Praktiken, die für ihre Anhänger*innen im höchsten Maße identitätsstiftend sind. Romi Marcía Bencke, lutherische Pastorin und Generalsekretärin des Nationalen Brasilianischen Kirchenrates, schildert welchen Herausforderungen sich die christlichen Kirchen in diesem besonderen Umfeld in Bezug auf eine gelingende Ökumene stellen müssen.

Das Wort, so die christliche Tradition, wird Fleisch und verbindet die menschliche Erfahrung mit dem Heiligen. All die verschiedenen indigenen Sprachen Brasiliens drücken unzählige Kosmovisionen aus. Sie sind unerlässlich für die Ausübung von Riten, für die Weitergabe der von den Ahnen ererbten Kulturen und für die Suche nach Rat und Führung durch die vielfältigen heiligen Wesen, die unser Land von Norden bis Süden bevölkern.

Lange Zeit war Brasilien als das größte christliche Land der Welt bekannt. Anfangs war es ein römisch-katholisches Land und während der Kolonialzeit war die römisch-katholische Kirche die offizielle Religion des Landes. Erst mit der Ausrufung der Republik, 1889, nahm Brasilien das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat in seine Verfassung auf und erkannte andere christliche Konfessionen an. Es ist wichtig festzuhalten, dass das Prinzip der Säkularität des Staates nur gegenüber den verschiedenen christlichen Konfessionen galt, die auf dem Staatsgebiet vertreten waren. Andere Religionen, Kardecs Spiritismus, afro-brasilianische und indigene religiöse Ausdrucksformen wurden mit Okkultismus und Hexerei in Verbindung gebracht und deshalb kriminalisiert. Trotz dieser Verfolgungen überlebte die Vielfalt der Geister, der Orixás, Caboclos und anderer Wesenheiten in den Vorstädten, an den Küsten und in den Wäldern. Für verschiedene Religionen in Brasilien offenbart sich das Heilige in den Flüssen, der Erde, der Luft und den Bäumen.

Ab den 1980er Jahren begann ein Prozess der Transformation der brasilianischen Religiosität. Brasilien entwickelte sich zunehmend zu einem evangelisch-evangelikalen Land. Die Daten des brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik, das für die Durchführung der Volkszählung verantwortlich ist, haben diese Veränderung über die Jahre hinweg aufgezeigt. Seine Prognose besagt, dass bis zum Jahr 2023 die Zahl der Menschen, die sich als evangelisch bezeichnen, größer sein wird als die Zahl der Menschen, die sich als römisch-katholisch bezeichnen.

Richtet sich die Liebe Christi nur an Christ*innen?

Abgesehen von den Zahlen sollte nicht vergessen werden, dass das Christentum das Selbstverständnis der Nation prägt, weil das Land mehrheitlich römisch-katholisch und evangelisch ist. Diese Prägung hat die brasilianische ökumenische Bewegung dazu gebracht, über viele Jahre der Einheit in der Vielfalt und der Versöhnung zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen Priorität einzuräumen. Allenfalls ist ihr im Kampf um demokratische Offenheit eine gewisse Annäherung an die jüdische Tradition gelungen.

Es ist heute nicht mehr möglich, an die Liebe Christi zu denken, die die Welt zur Einheit und Versöhnung bewegt, ohne die religiöse und kulturelle Vielfalt zu berücksichtigen, die uns prägt. Richtet sich die Liebe Christi nur an Christ*innen? Oder liegt die Liebe Christi jenseits unseres Verständnisses und ist eine Gnade, die sich in der gesamten Schöpfung manifestiert und für alle Lebewesen auf dem Planeten das Recht auf Existenz einfordert?

Doch wir leben eine Dichotomie in unserem Land. Es fällt uns schwer, mit dem Bild eines hegemonialen christlichen Landes zu brechen. Unsere hegemoniale religiöse Auffassung trägt dazu bei, dass eine Vielzahl von Erfahrungen des Heiligen an den Rand gedrängt und unsichtbar gemacht wird. Wenn wir betonen, dass der mögliche Dialog ausschließlich zwischen Christ*innen stattfindet, tragen wir dazu bei, dass Vielfalt zu einem Grund für soziale Fragmentierung, Vorurteile und Diskriminierung wird. Die Aussicht auf einen Dialog, der ausschließt, trägt nicht zur Einigkeit und sozialen Versöhnung bei.

Viele Herausforderungen für die ökumenische Praxis

Trotz der Ungewissheit über die Anzahl der indigenen Völker, die um 1500 in Brasilien lebten, schwankte ihre Zahl zwischen drei und acht Millionen Menschen, aufgeteilt auf viele Völker, mit unterschiedlichen religiösen Traditionen und Sprachen. Das kolonialistische Projekt dezimierte die Anzahl dieser Menschen dramatisch. Es gibt keine verlässlichen Daten, um den Völkermord an den Indigenen während der Kolonialzeit zu quantifizieren. Er setzte sich durch die Jahrhunderte hindurch fort, und im 21. Jahrhundert wird die Kolonialherrschaft durch die Herrschaft von Bergbauunternehmen, Großgrundbesitzer*innen und durch Waldrodungsprojekte ersetzt.

Die gleiche Praxis wurde mit den Afrikaner*innen, die zur Versklavung nach Brasilien gebracht wurden, wiederholt. Das erste, was mit den afrikanischen Menschen, die einen Fuß auf brasilianischen Boden setzten, gemacht wurde, war, sie zu taufen, damit sie überhaupt „zu Menschen werden“, denn weder Indigene noch Afrikaner*innen hatten Seelen. Nur die Taufe konnte sie „menschlich und zivilisiert“ machen. Lilia Moritz Schwarcz weist darauf hin, dass 40 Prozent, circa 3,8 Millionen der Menschen, die aus Afrika zur Arbeit in den landwirtschaftlichen Kolonien des portugiesischen Amerikas geholt wurden, zwangsweise nach Brasilien gebracht wurden. Heute bestehen 60 Prozent der brasilianischen Bevölkerung aus Menschen mit schwarzer oder brauner Hautfarbe. Damit kann nach ihrer Ansicht Brasilien bevölkerungsmäßig als das zweitgrößte Land mit afrikanischen Menschen nach Nigeria angesehen werden.

Angesichts dieser Vielfalt von Völkern, Kulturen und Weisen der Heiligkeit in Brasilien gibt es viele Herausforderungen für die ökumenische Praxis. Wir müssen außerdem die Mauern niederreißen, die manchmal unbewusst eine Hierarchie aufstellen, mit wem man reden darf und mit wem nicht.

Die religiöse Vielfalt Brasiliens fordert uns als Kirchen heraus, unsere Theologien und diakonischen Praktiken selbstkritisch zu hinterfragen, die in der Vergangenheit Rassismus und Gewalt gegen indigene Bevölkerungsgruppen legitimiert haben.

Wenn das Heilige überlebt, überleben auch die Menschen

Im Nationalen Brasilianischen Kirchenrat bemühen wir uns um ein ökumenisches Zeugnis, das die Kirchen und ihre Gemeinschaften dazu ermutigt, mit diesen unzähligen Formen gelebter Spiritualität in unserem Land in Dialog zu treten und ihnen zu begegnen. Indem wir den Dialog als Weg zu Einheit und Versöhnung fördern, fördern wir auch das Hören auf die zum Schweigen gebrachten Stimmen. Wir können die Anderen nur erkennen, wenn wir ihre Geschichten hören und von ihrem Verständnis der Welt erfahren. Auch sie sind unsere Nächsten und es ist wichtig zu hören, was sie über uns denken. Das ist nicht immer eine leichte Übung, aber das ökumenische Engagement verlangt das. Deshalb erneuern wir die ökumenische Praxis, indem wir einer Methodik von Zuhören, Dialog, Transformation, Versöhnung und Einheit in der Vielfalt folgen.

Wir können zwei Erfahrungen mitteilen, die wir als Nationaler Brasilianischer Kirchenrat gemacht haben: Die erste war die Ökumenische Mission zur Unterstützung und Solidarität mit dem Volk der Guarani-Kaiowas in Mato Grosso do Sul. Sie sind ein indigenes Volk, das von den großen Sojafarmern heftig attackiert wird. Eines der Hauptmerkmale dieses Volkes ist ihre Spiritualität, die sich in Musik und Riten mit vielen kreisförmigen Tänzen ausdrückt. Durch die Zerstörung ihrer Casas de Reza (Häuser der Anbetung), einem heiligen Ort im Dorf, schwächen die Großgrundbesitzer*innen die indigenen Gemeinden. Die Zerstörung provoziert eine existenzielle Leere und das Gefühl, dass ihre spirituellen Wesen sie verlassen hatten. In der Ökumenischen Kampagne für Geschwisterlichkeit 2016 haben wir gemeinsam mit dem Ökumenischen Forum in Brasilien und mit Unterstützung des Ökumenischen Solidaritätsfonds den Wiederaufbau der zerstörten Casas de Reza unterstützt. Wir verstehen, dass es zur Überwindung des Rassismus notwendig ist, die verschiedenen Formen der Spiritualität willkommen zu heißen und ihr Überleben zu ermöglichen. Wenn das Heilige überlebt, überleben auch die Menschen.

Eine weitere Erfahrung machten wir mit einem Gesprächskreis mit dem Motto: „Dialog: Engagement der Liebe“. Wir luden Angehörige verschiedener Ausdrucksformen des Glaubens ein, zu teilen, wie ihre religiöse Tradition zu einer Welt der Gerechtigkeit und des Friedens beiträgt. Es war eine atemberaubende Erfahrung, denn es war eine der Auftaktveranstaltungen für die Ökumenische Kampagne für Geschwisterlichkeit 2021. Es war ein Moment der Bestätigung, dass Religionen zum Frieden beitragen können, solange sie sich selbst als Mitwirkende und als einen der möglichen Wege zu einer Gesellschaft des guten Lebens anerkennen, das ohne Gewalt, antirassistisch, die Menschenrechte respektierend und eine Einladung für die Vielfalt ist.

Von Romi Marcía Bencke für das EMW-Themenheft 2021


Zur Person

Romi Marcía Bencke ist lutherische Pastorin, Generalsekretärin des Nationalen Brasilianischen Kirchenrates und Vorstandsmitglied des Ökumenischen Forums in Brasilien, das die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsorganisationen der ACT Alliance und internationalen ökumenischen Partnern organisiert und fördert.

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