Die Liebe Christi – Hemmschuh oder Triebkraft?

Indonesien ist ein Vielvölkerstaat und das Land der Pancasila. Das bedeutet, dass sich jede*r Einwohner*in für eine der fünf anerkannten Religionen entscheiden muss. Dies hat Folgen für den eigenen Glauben, darauf wie die Menschen miteinander umgehen, aber auch wie der Staat mit den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften verfährt. Der Liebe Christi kommt hierbei eine überraschende Doppelrolle zu.

Warum nicht bloß „die Liebe Gottes“, sondern ganz explizit „die Liebe Christi“? Wer sich wirklich mit dieser Frage auseinandersetzt, muss auch die stets aktuelle Frage beantworten, die jede*n umtreibt, die*der sich als Christ*in bezeichnet: „Wer ist Christus?“ Nicht Christus, wie er in kirchlichen Dogmen definiert ist, die jeden Sonntag im Glaubensbekenntnis wiederholt werden. Sondern die Frage ist viel existenzieller: „Wer ist Christus für mich?“ Hier besteht der Anspruch darin, Rechenschaft über den eigenen Glauben abzulegen, dessen man gewiss ist.

Der Ausdruck „Gottes Liebe“ ist eigentlich einfach und wird häufig verwendet. Jede*r kann ihn benutzen, welchem Glauben er oder sie auch immer anhängen mag! Vor allem jemand, der, wie ich, im Land der Pancasila lebt und aufgewachsen ist, wo das Prinzip, die ‚sila‘ einer „all-einen göttlichen Herrschaft“ zum ersten Prinzip der Staatsphilosophie wurde, und wo „Religion“ immer noch als sehr wichtig angesehen wird. Da ist die religiöse Sprache immer noch der wichtigste Weg – und wird oft sogar zum einzigen Weg – um fast alle Fragen des Lebens zu beschreiben und zu bearbeiten.

Der Begriff „Liebe Gottes“ ist überall zu finden

Im Kontext einer solchen Gesellschaft ist der Begriff „Liebe Gottes“ überall zu finden. Möglicherweise nur als Floskel, die bei der Begrüßung oder beim Abschied geäußert wird: „Gottes Liebe sei mit dir.“ Es besteht keine existenzielle Nötigung, über die Verwendung dieses Ausdrucks Rechenschaft abzulegen. Der andere, der es hört, wird darin nur eine gewöhnliche Begrüßung sehen und jedenfalls wissen, dass Sie immer noch „religiös“ sind.

Interessant ist hier noch ein weiterer Aspekt: das Wort „Gott“. Als Mensch, der in Indonesien, einem multikulturellen Land par excellence, geboren und aufgewachsen ist, bin ich immer dankbar, dass das Wort für Gott, „Allah“, von den beiden abrahamitischen Religionsgemeinschaften Islam und Christentum verwendet werden kann. Das Wort „Allah“ kann zu einer Brücke werden, die diese beiden missionarischen Religionen verbindet. Es ist für uns nur schwer vorstellbar, dass das Wort „Allah“, wie es in Malaysia geschah, nur von Muslim*innen verwendet werden dürfte! Zwar gab es auch in Indonesien Druck von islamistischen Gruppen, ebenso zu verfahren. Der Versuch wurde jedoch – Gott sei Dank – rundweg abgelehnt. Das Wort „Allah“ ist in Indonesien bis zum heutigen Tag eher eine Brücke als eine Trennlinie zwischen jenen beiden missionarischen Religionsgemeinschaften geworden. Für Religionen und Glaubensrichtungen außerhalb der abrahamitischen Tradition wird dagegen häufiger ein anderer Begriff gebraucht: „Herr“.

Wie bereits eingangs erwähnt, kann nicht jede*r den Ausdruck „die Liebe Christi“ verwenden. Dafür muss man natürlich zuerst Christ*in sein, das heißt anerkennen, „dass Gott diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt, zum Herrn und
Christus gemacht hat“ (Apg 2,36).

Die Liebe Christi wird zum trennenden Faktor

Wenn Menschen den Ausdruck „Liebe Christi“ verwenden, dann ist das eine Art Glaubensverkündigung, eine Identitätserklärung, sowohl persönlich als auch als Teil einer Glaubensgemeinschaft. Daher wird die Liebe Christi geradezu zum trennenden Faktor! In dem Moment, wo ich diesen Ausdruck verwende, bekräftige ich meine Identität als Christ*in, die sich von anderen Gemeinschaften unterscheidet. Die Liebe Christi trennt also statt zu einen!

Muss die Liebe Christi zur Grenzmarke werden, die mich, der an ihn glaubt, von denen da draußen trennt? Wie verstünden wir dann den von Paulus so herrlich formulierten Kolosserhymnus, dass Gott durch Christus „alles mit sich versöhnte, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz“ (Kol 1,20)?

Für mich als Christ, der sich aktiv um den Aufbau von Versöhnung und interreligiösem Dialog bemüht, führt dieses Thema zu einer existenziellen Auseinandersetzung. Was ist meine theologische Grundlage als jemand, der an die Liebe Christi glaubt, die mich gerade dazu motiviert, mich um den Aufbau von Brücken des interreligiösen Dialogs zu bemühen? Kann ich, ausgehend von meinem Glauben an die Liebe Christi, den Weg des Dialogs tatsächlich leben? Oder muss ich diese Identität verbergen, wenn ich den Dialograum betrete – zum Beispiel, indem ich den eher vereinenden Ausdruck „Liebe Gottes“ verwende?

Staatliche Harmonieförderung: Pancasila und Common Platform

Meiner Meinung nach verfolgt das bis heute bestehende Projekt einer theologia religionum schon lange dieses existenzielle Ringen. Zumindest gehen, wie in Indonesien zu beobachten ist, die Bemühungen um den Aufbau des Dialogs oft von einer gemeinsamen Basis aus oder versuchen, sie zu finden, sei es die Pancasila, die „Harmonie zwischen Religionsgemeinschaften“ oder – bis heute populär – eine common platform. Dort scheint die jeweilige Identität für einen Moment „versteckt“ zu sein: die Menschen sind damit beschäftigt, eine common platform zu suchen und zu finden. Später findet dann jeweils auf der common platform die besondere Identität jeder Gruppe ihren Platz.

In Indonesien gibt es formelle Dialoge, die vom Staat gefördert und initiiert wurden. Ich bezeichne solche Bemühungen des Staates als „Harmonisierungspolitik“, bei der der Staat, anstatt den größtmöglichen Raum für dialogische Begegnungen zu öffnen, welche zu interreligiöser Harmonie führen könnten, mit verschiedenen Instrumenten versucht, gesellschaftliche Gruppen zu „harmonisieren“ und gleichzeitig die derart geschaffene Harmonie zu sichern. So werden zum Beispiel die Unterscheidungselemente von „SARA“ (suku [Ethnizität], ras [Rasse], agama [Religion] und antar-golongan [Klassenunterschiede]) als die Harmonie gefährdende Faktoren betrachtet und daher tabuisiert. Stattdessen wurde von Beginn des Suharto-Regimes der „Neuen Ordnung“ eine formelle Organisation für Harmonie geschaffen (genannt Musyawarah Antar-Umat Beragama, Interreligiöse Beratung). Dort kommen öfter wichtige Persönlichkeiten der Religionsgemeinschaften zusammen, diskutieren, treffen Vereinbarungen und werden durch die Massenmedien als eine Form „interreligiöser Harmonie“ inszeniert.

Erst seit einiger Zeit gibt es Bemühungen für einen echten interreligiösen Dialog. Im indonesischen Kontext wurden diese Anfänge echter dialogischer Begegnungen zu einer grundlegenden Kritik und gleichzeitig zur interessanten Alternative der staatlichen Dialogplattformen. Eine der Hauptfiguren und derjenige, der jene Initiative zuerst ergriff, war Professor Dr. Mukti Ali, ehemaliger Religionsminister, der unter anderem die Erprobung von live-ins als Dialogmodell bekannt machte. Anstatt nach einer common platform zu suchen, treffen sich bei diesem Modell Aktivist*innen mit unterschiedlichem religiösen Hintergrund und leben zusammen, um gemeinsam soziale Projekte umzusetzen.

Die Liebe Christi kann zum einenden Faktor werden

Ein bedeutenderer Durchbruch in den dialogischen Bemühungen erfolgte Ende der 1990er Jahre, als Y.B Mangunwijaya (ein katholischer Priester), Abdurrahman Wahid (Führungspersönlichkeit der NU), Eka Darmaputera (evangelischer Pfarrer), Mutter Gedong Bagus Oka (eine hinduistische Persönlichkeit), Th. Sumartana (evangelischer Theologe) und Djohan Effendi (muslimischer Denker) die Nichtregierungsorganisation DIAN/Interfidei in Yogyakarta gründeten. Das bis heute andauernde DIAN/Interfidei-Experiment ist bemerkenswert, weil es nicht nur eine Fortsetzung der anfänglichen Bemühungen von Mukti Ali ist, sondern gleichzeitig die dialogische Begegnung mit dem Einsatz für eine pro demokratische Zivilgesellschaft verknüpft.

Die inspirierende Geschichte aus den Experimenten von DIAN/Interfidei hat mich gelehrt, dass Bemühungen um Versöhnung und Dialog gerade von den jeweils partikularen Identitäten ausgehen können, ohne obsessiv nach einer common platform suchen zu müssen. Oder, wenn man es anders formulieren will, der interreligiöse Dialog geht gerade von alltäglichen Begegnungen und Dialogen sowie von Arbeitsdialogen aus, statt vom Expert*innen-Dialog und auf „Mystiker*innen-Ebene“. Genau in den Begegnungen des Alltags lernen die Menschen, mit Unterschieden vertraut zu werden, die jeweiligen Traditionen zu schätzen und kleine Vereinbarungen zu treffen, um das Gespräch fortzusetzen sowie das Leben und die gemeinsamen Interessen zu organisieren. Hierbei kann die Liebe Christi eine treibende Kraft für Versöhnungs- und Einheitsbemühungen sein, anstatt ein trennender Faktor.

Sowohl eine Erklärung als auch eine Vision der „Liebe Christi“ bietet für mich eine Passage aus dem Johannesevangelium (Joh 15,1-17): Die Einladung, in Christus und seiner Liebe zu bleiben. Fast die gesamte Passage durchzieht der Widerhall dieser Einladung. Das griechische Wort menein, das normalerweise mit „bleiben“, „wohnen“ oder dergleichen übersetzt wird, spielt in all seinen Variationen für Johannes eine wichtige Rolle. Er verwendet dieses Wort 68 Mal, sowohl im Evangelium als auch in den Briefen (zum Vergleich: Im gesamten neutestamentlichen Schrifttum kommt das Wort 118 mal vor). Das gesamte vierte Evangelium kann als persönliche Einladung gelesen werden, tiefer einzutauchen, ja vielmehr zu versinken in das „Geheimnis Christi“ und in ihm zu leben.

Dringend benötigt: Ein Haus der Liebe

In der Passage, in der Jesus seine Jünger über den „Weinstock“ belehrt und darüber, wie sie Frucht bringen werden, wenn sie an ihm bleiben, finden wir den Hauptsinn der Einladung Jesu: In seiner Liebe zu bleiben bedeutet, sein neues Gebot zu befolgen, einander zu lieben. „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“ (Joh 15,13). Nur wenn wir bereit sind, dieses Gebot zu befolgen, werden wir nicht mehr „Diener*innen“, sondern „Freunde“ genannt, werden wir in Ihm bleiben und ein „Haus der Liebe“ in Seiner Liebe bauen.

Dieses Haus der Liebe ist aus meiner Sicht das, was heute dringend benötigt wird – von uns, von der Kirche, der Gesellschaft und sogar von der Welt, die gerade eine fundamentale Veränderung erfährt als Folge der Corona-Pandemie. Denn im Haus der Liebe leben und kämpfen wir für die Kultur des Lebens als Widerstand gegen die von allen Seiten drohende Kultur des Todes. Im Haus der Liebe wird auch um die Hoffnung gekämpft, eine „Hoffnung gegen alle Hoffnungen“, um eine Formulierung von Paulus zu gebrauchen. In ihm wird auch darum gekämpft, der Verzweiflung wegen der nie endenden Pandemie zu begegnen.

Dieses Haus der Liebe und der Hoffnung habe ich kennen gelernt, als ich das Ringen der ökumenischen Bewegung in Indonesien hautnah verfolgen konnte. In der Vergangenheit war die ökumenische Bewegung darauf ausgerichtet, so etwas wie eine einzige super church aufzubauen, in der alle partikularen Identitäten der Kirchen zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen werden sollten. Das ist das Bild der „Einen christlichen Kirche“ (Gereja Kristen Yang Esa, GKYE), das lange Zeit das ökumenische Denken in Indonesien geprägt hat. Die langjährige Erfahrung lehrt jedoch, dass diese Zielvorstellung unrealistisch ist, ja, dass sie die einzigartigen Traditionen und die Geschichte jeder Kirche auslöschen würde. Daher ist seit der 10. Vollversammlung des Indonesischen Kirchenrates in Ambon (1984) ein neues Paradigma der ökumenischen Bewegung entstanden. Die Menschen kämpfen nicht mehr obsessiv für die Einheitlichkeit (kesatuan) von GKYE, sondern versuchen gemeinsam, die Zeichen der Einheit (keesaan) in der Erfahrung des Kircheseins in Indonesien sichtbarer zu machen.

Gemeinsame Berufung als Zeichen der Einheit

Zeichen dafür war unter anderem eine Namensänderung: vom Rat der Kirchen in Indonesien (Dewan Gereja-gereja di Indonesia, DGI) zum Bund der Kirchen in Indonesien (Persekutuan Gereja-gereja di Indonesia, PGI) sowie die Annahme von Hauptaufgaben der gemeinsamen Berufung (Pokok-pokok Tugas Panggilan Bersama) als Zeichen von Ökumene in Aktion. So wird die Einzigartigkeit der besonderen Identität der Kirchen – sei es ihr historischer Hintergrund, ihre Tradition oder die Formulierung ihres Bekenntnisses – akzeptiert und gewürdigt, und gleichzeitig bleibt im Bewusstsein, dass es Hauptaufgaben einer gemeinsamen Berufung gibt, Zeichen der Einheit der Kirche zunehmend als Zeugnisse für die Welt sichtbar werden zu lassen.

Im Horizont dieser ökumenischen Vision gibt es ein interessantes Phänomen: Die Präsenz und Rolle von Andersgläubigen wird zunehmend als wichtig erachtet, sie wird zu einem integralen Bestandteil der ökumenischen Bewegung. Jetzt, da in Indonesien Kirchen einen Prozess der politischen Ausgrenzung erleben, wo Gottesdienstgemeinden von Menschenmengen gestört, Kirchengebäude gewaltsam geschlossen oder sogar in vielen Fällen niedergebrannt werden, gerade jetzt tritt ein Teil muslimischer Freunde, die in der interreligiösen Bewegung aktiv sind, hervor, um Kirchen, die Unheil erleben, zu verteidigen. Sie werden wirklich zum „Haus der Liebe“, von dem Johannes spricht: bereit, von anderen muslimischen Gruppen verspottet und angefeindet zu werden, und sogar bereit, zu Märtyrer*innen zu werden.

In solchen Ereignissen finde ich Anzeichen dafür, dass die Liebe Christi tatsächlich ein versöhnender Faktor wird, der verschiedene Gruppen vereinen kann, anstatt ein trennender Faktor zu sein. Und ich selbst muss, wie Paulus sagt, immer mehr lernen, „welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe“ der Liebe Christi ist (Eph 3,18b).

Von Trisno S. Sutanto (Übersetzung: Eckhard Zemmrich) für das EMW-Themenheft 2021


Zur Person

Trisno Subiakto Sutanto (geb. 1962) war 1995 Mitgründer und dann Koordinator von MADIA, einer Gesellschaft für interreligiösen Dialog in Jakarta, Forschungskoordinator beim Indonesischen Kirchenbund (PGI) und Redakteur der elektronischen Zeitung www.satuharapan.com. Er publiziert regelmäßig in renommierten indonesischen Zeitungen und Zeitschriften zu interreligiösen und religionspolitischen Themen.

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