„Die Welt braucht die Liebe Christi und eine mutige Kirche“
Wie spricht das Thema der Vollversammlung in die Situation von Christ*innen der weltweiten Ökumene? Mitri Raheb berichtet von neuen Formen religiösen Ausdrucks, die unter Corona-Bedingungen in Palästina entstanden sind. Ein Beitrag aus dem EMW-Jahresbericht 2019/2020.
Am 5. März 2020 wurden die ersten Infektionen durch das Corona-Virus in der Stadt Beit Jala, nahe Bethlehem, im Zusammenhang mit einer Touristengruppe diagnostiziert. Innerhalb weniger Stunden wurden die drei Städte Beit Jala, Beit Sahour und Bethlehem abgeriegelt. Am selben Tag schloss die Geburtskirche, die jährlich von fast zwei Millionen Tourist*innen besucht wird, ihre Türen für Tourist*innen und einheimische Gläubige gleichermaßen. Wenige Tage später wurden die Grabeskirche, die al-Aqsa-Moschee und der Felsendom geschlossen.
© Foto: Mitri Raheb | Ungewohnte Leere an der Weihnachtskirche in Bethlehem an den Ostertagen 2020. In anderen Jahren wäre die Straße dicht bevölkert.
Die Schließung dieser Gotteshäuser ist in der Geschichte beispiellos. Am 14. März forderten die Oberhäupter der Kirchen in Jerusalem gemeinsam ihre Mitglieder auf, sich an die Vorschriften der „zivilen Behörden“ in Bezug auf die Covid-19-Pandemie zu halten. Sie sollten von Versammlungen an Sonntagen und anderen Wochentagen absehen und zu Hause bleiben. Das war eine einzigartige Herausforderung, denn viele Christ*innen und Muslime versammelten sich selbst während der Ausgangssperren zum Gebet, nicht nur als Ausdruck ihres Glaubens, sondern auch als Symbol des kreativen Widerstands gegen die israelische Besatzung.
Geistlichen wie den Gemeinden fiel es schwer, den Gottesdiensten fernzubleiben, zumal Mitte März die Passions- und Fastenzeit mit den besonderen Gottesdiensten an jedem Freitag begann, die in Palmsonntag und Karwoche gipfelt. Es war keine leichte Entscheidung für die Kirchenoberhäupter, die Palmsonntagsprozession, die Karfreitagsprozession mit dem Kreuz entlang der Via Dolorosa oder die Heilige Feuerzeremonie am Samstag mit der Vielzahl von Menschen, die mit ihren Kerzen darauf warten, dass das Heilige Licht aus dem Grab herausgetragen wird, abzusagen. Es war keine leichte Entscheidung für die Muslime, auf die abendlichen Ramadan-Gebete oder den Freitagsgottesdienst in der al-Aqsa-Moschee zu verzichten.
Neue Formen religiösen Ausdrucks
Ich habe mit Interesse beobachtet, welche neuen Formen des religiösen Ausdrucks sich unter diesen Bedingungen entwickelten.
1. Normalerweise fordern Pastor*innen ihre Mitglieder immer auf, in die Kirche zu kommen. Zum ersten Mal überhaupt baten sie über die sozialen Medien ihre Gemeindeglieder, zu Hause zu bleiben, um die Ausbreitung der Infektion zu minimieren. Sich um die Nächsten zu kümmern, indem man sie nicht ansteckt, wird als christliche Tugend dargestellt, durch die Gottes Liebe den Nächsten gegenüber gelebt wird (Markus 12, 31).
2. Palästinensische Theologen haben unterstrichen, dass die Notwendigkeiten ihre eigenen Regeln setzen. Sie zitierten Jesu Worte: „Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat“ (Markus 2,27). Das menschliche Leben hat für den Glauben die höchste Priorität und Vorrang vor jeder religiösen Reinheit oder Zeremonie.
3. Palästinensische Theolog*innen betonen die theologische Bedeutung des Wortes „Kirche“. Sie ist die Gemeinschaft von Gläubigen, kein Gebäude. Sie erinnern daran, dass immer dann, wenn sich zwei oder drei Menschen im Namen Jesu versammeln, er mitten unter ihnen ist (Matthäus 18,20). So ermutigten sie die Menschen, zu Hause als christliche Familie zu beten, ähnlich wie in den Frühzeiten, als es noch keine Kirchengebäude gab. Diese alten Formen einer „Hauskirche“ wieder zu erfahren, war während dieser Pandemie wichtig und verwandelnd. Wie es ein Pastor ausdrückte: „Die Kirche ist nicht leer, sie wurde neu eingesetzt.“
4. Wenn es Menschen nicht erlaubt ist, in die Kirche zu kommen, dann muss die Kirche die Menschen in ihren Häusern erreichen. Mehrere Kirchen begannen, ihre Gottesdienste über das Internet mit Hilfe von Facebook auszustrahlen, und überall in Palästina begann das Live-Streaming. Die Mitglieder konnten zu Hause bleiben und die Liturgie mit ihren Pfarrer*innen feiern, während sie ihren Morgenkaffee tranken. Sie hörten sich Predigten an, während sie ihr Essen zubereiteten. Ältere Menschen, die nicht mit der Technik vertraut waren, wurden von Parrpersonen gebeten, ZOOM herunterzuladen, damit sie an der Bibelarbeit teilnehmen konnten. Eine andere Art von virtueller Gemeinschaft wurde durch die Nutzung der neuen Medien geschaffen. Während einige dieser Phänomene in Ländern wie den USA und in Europa bekannt waren, handelte es sich in Palästina um ganz neue Formen der religiösen Teilnahme.
5. Die Nutzung der sozialen Medien verwandelte die isolierte Kirche in Palästina in eine transnationale Gemeinschaft. Als ich den Ostergottesdienst online verfolgte, konnte ich sehen, dass ehemalige Mitglieder der Lutherischen Weihnachtskirche in Großbritannien, den USA, Österreich und Deutschland mit uns am Gottesdienst teilnahmen. Sogar Freunde aus Schweden und Malaysia stimmten mit ein. Freunde aus dem Libanon, die in abgelegenen Gegenden leben, waren gespannt darauf, den Gottesdienst in Bethlehem zu verfolgen. Plötzlich war die Isolation durch verschlossene Tore überwunden, und ein neues Gefühl der Einheit und einer transnationalen Gemeinschaft wurde sichtbar.
6. Dass wichtige Großereignisse wie die Palmsonntagsprozession gestrichen oder die Austeilung des Heiligen Feuers auf den Klerus begrenzt wurde, war für viele Christ*innen ein großer Verlust. Doch die Kirchen entwickelten Alternativen. In Beit Jala formten katholische Jugendliche am Palmsonntag Palmenzweige zu kleinen Kreuzen und fuhren mit Palmenzweigen geschmückten Autos durch die Stadt. Sie spielten Palmsonntagslieder und zogen von Haus zu Haus und verteilten die Kreuze, die sie gemacht hatten. Die orthodoxen Jugendlichen in Bethlehem taten Vergleichbares am Karsamstag; sie empfingen das Heilige Feuer aus der Grabeskirche und fuhren von Haus zu Haus, um das Licht zu teilen, während sie Lieder von Christi Auferstehung spielten. All das waren ermutigende Botschaften für Menschen, die unter der Bedrohung durch ein tödliches Virus leiden und sich nach dem Leben sehnen.
7. Die Nutzung der sozialen Medien war nicht nur etwas für den Klerus. Es ist ermutigend zu sehen, wie die Schwächsten, die älteren Menschen in Palästina, diese Medien nutzten. Das Ajyal-Programm für ältere Menschen, eine der Outreach-Missionen des Diyar-Konsortiums (Anm: Diyar startete dieses Programm 2006, um mit psycho-sozialen und kreativen Angeboten ältere Menschen zu aktivieren. Ajyal-Mitglieder haben ihre eigenen Buchclubs, Chöre, Theatergruppen, Yogagruppen, Bildungsausflüge, Reisen, Retreats und anders mehr.) ermutigte seine Mitglieder, ein kurzes Video mit einer positiven Botschaft zu drehen und auf Facebook zu posten. Mehrere ältere Menschen, einige über achtzig Jahre alt, nahmen kurze Videoclips auf, während sie Osterkekse backten, ihren Enkelkindern Lieder beibrachten oder ihnen bei den Hausaufgaben halfen. Sie stellten diese Videos in Arabisch, Englisch, Deutsch, Französisch und Spanisch online, um die Menschen mit ihrer Botschaft der Hoffnung zu ermutigen. Hier zeigte sich keine ängstliche, sondern eine kraftvolle und lebendige Gemeinschaft.
8. Die Pandemie hat den Menschen weltweit einen wirtschaftlichen Tribut abverlangt, aber für die Christ*innen in Bethlehem und den umliegenden Städten, deren Lebensunterhalt ausschließlich vom Tourismus abhängt, bedeutet Covid-19 nicht nur vorübergehende, sondern monatelange, wenn nicht gar jahrelange Einkommensverluste. Eine Schlüsselaufgabe der Kirche ist, sich um die Armen, Arbeitslosen und Bedürftigen zu kümmern. Kirchen aller Denominationen waren bestrebt, zu helfen, Nahrungsmittel und Gelder an die Bedürftigen zu verteilen. Am auffälligsten ist, dass viele christliche Jugendgruppen zusammen mit ihren muslimischen Geschwistern aus eigenem Antrieb die Initiative ergriffen und Spenden für Bedürftige sammelten, um sie und ihre Familien zu unterstützen. Diese Formen der Solidarität spiegeln die Einheit der Menschheit wider. Menschen aus Hebron im Süden und Toubas im Norden waren bestrebt, die Menschen in Bethlehem mit Obst, Gemüse und Lebensmitteln zu unterstützen. Einmal mehr wird eine vereinte palästinensische Gemeinschaft wie ein wunderschöner Wandteppich sichtbar.
9. Die Abriegelung hat uns so viel genommen, aber sie schenkte uns auch etwas sehr Kostbares: Zeit. Es ist wichtig, die Menschen dazu anzuhalten, die Zeit nicht zu verschwenden, sondern sie auszukaufen (Epheser 5,16), um ein Hobby auszuüben, ein Buch zu lesen, Artikel zu schreiben, Bilder und Kunst zu produzieren, Zeit mit der Familie zu verbringen und für die Zukunft zu planen. Ich war begeistert zu sehen, wie die Studierenden der Dar al-Kalima-Universität Kurzfilme in sozialen Medien veröffentlichten, in denen sie sich mit Themen wie der Überwindung der Einsamkeit während der Abriegelung auseinandersetzten, oder wie sie neu lernten, der Natur zu lauschen, die sich wegen der Abriegelung erholte, und den Vögeln, die man überall singen hörte.
10. Die Pandemie ist eine Herausforderung von globaler Dimension. Das Virus unterscheidet nicht zwischen einem Israeli und einem Palästinenser, zwischen einer Amerikanerin und einer Chinesin. Es ist bereits jetzt klar, dass es keine Chance gibt, das Virus einzudämmen, wenn der Impfstoff nicht allen und nicht nur den Ländern, die ihn sich leisten können, zur Verfügung steht. Es ist die Liebe Christi zur Welt, die uns inspiriert, uns den Geringsten zuzuwenden. Afroamerikaner wie George Floyd, der wegen vierhundert Jahren systemischer Ungerechtigkeit nicht atmen kann, oder Palästinenser wie der autistische Iyad Halak, der von israelischen Soldaten ermordet wurde, die seit über fünf Jahrzehnten palästinensisches Land besetzen, dürfen nicht vergessen werden. Gerechtigkeit ist ein wichtiger Schlüssel zu Frieden, Versöhnung und Heilung.
Bewegende Liebe Christi
Die Liebe Christi hat die Kirche während dieser Pandemie dazu gedrängt, ihre Praxis zu überdenken. Die Menschen an die erste Stelle zu setzen und sich trotz räumlicher Distanz um den Nächsten zu kümmern, wurde als wichtiger angesehen als sich zu einem Gottesdienst zu versammeln. Die Pandemie hat gezeigt, dass die Armen, die älteren Menschen, die Kranken, die Afroamerikaner*innen, die Palästinenser*innen und die Lateinamerikaner*innen am verletzlichsten sind. Die Liebe Christi ruft die Kirche dazu auf, den Subalternen ihre ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Die Liebe Christi sollte die Kirche dazu bewegen, sich für die Gesundheitsrechte der Vergessenen einzusetzen, einschließlich kostenloser Impfungen. Eines wird sich nicht ändern: Die Welt vor und nach Covid-19 wird auch weiterhin die Liebe Christi und eine Kirche, die mutig Gerechtigkeit, Einheit und Versöhnung verkündet, dringend brauchen.
von Mitri Raheb für den EMW-Jahresbericht 2019/2020
Zur Person
Dr. Mitri Raheb ist Gründer und Präsident des Dar al-Kalima University College für Kunst und Kultur in Bethlehem.