Einheit schließt Vielfalt nicht aus

Die Liebe Christi bewegt Christ*innen und ihre Kirchen seit allen Zeiten. Ein Ausdruck dieser Liebe ist und war die Mission. Doch nicht immer mit rein positiven Ergebnissen. Der emeritierte Theologieprofessor Anthony J. Gittins beleuchtet verschiedene Aspekte der Liebe Jesu, strukturell, aber auch ganz persönlich, und zeigt auf, wo, besonders für die römisch-katholische Kirche, die Herausforderungen in Hinblick auf Mission und Ökumene liegen.

Es gibt keine universelle römisch-katholische Perspektive. Ich schreibe als Kleriker und Sozialanthropologe/Theologe mit beträchtlicher Erfahrung in der Mission im eigenen und in anderen Ländern, der zufällig römisch-katholisch ist und sich bemüht, ein besserer Christ zu werden. Ein wiederkehrendes Bild aus meiner Kindheit ist, wie meine Großmutter oder meine Mutter auf irgendeinen kindlichen Fauxpas von mir mit: „Um Himmels willen, tu das nicht!“ reagierten. Es war nicht nur Ausdruck ihrer Verärgerung, sondern ein ehrlich gemeintes Gebet um Gottes Beistand. Es bedeutete, dass meine Liebe zu Gott nicht so war, wie sie sein sollte, und es war eine Aufforderung, dass ich mich zu einem gottgefälligeren Leben bekehren sollte. Als Kind dachte ich daher, „die Liebe Christi“ beziehe sich auf meine Liebe zu Christus, in meinen späten Teenagerjahren als ich Latein lernte, verstand ich dann, dass amor Christi (Die Liebe Christi/Die Liebe von Christi) Christi Liebe zu mir meinte. Das war eine bedeutsame Entdeckung, doch immer noch verspürte ich mitunter den Impuls, mich selbst als den Liebenden zum Thema zu machen, und dabei zu vergessen, dass Jesus Christus derjenige ist, der zuerst liebt (1 Joh 4,7-19).

Damit sind zwei Möglichkeiten benannt, diese Aussage zu verstehen:
Christi Liebe zu uns und der ganzen Schöpfung kommt in seinem irdischen Leben zum Ausdruck. Wir sagen, er wurde „vom Vater gesandt (mitbeauftragt)“; aber nicht wie sein Kind, das er auf einen Botengang geschickt hat. Christus kam zu uns als der menschgewordene Gott, liebte uns bis zum Ende und gab sein Leben für uns. Für uns alle. Wir Christ*innen sind aufgerufen, diese Liebe durch unsere lebenslange Nachahmung des Beispiels Christi (imitatio Christi) lebendig zu halten.

Zum Werkzeug Jesu werden

Wir sind nicht nur Empfangende und Zeug*innen von Gottes Liebe, sondern auch ihre Botschafter*innen. Wir sind aufgefordert zu lieben, wie er uns zuerst geliebt hat, und andere einzuladen, darauf zu vertrauen, dass Gott in Christus weiterhin für jeden und jede von uns sorgt – und das ohne jede Proselytenmacherei. Jesus rief alle, damals wie heute, dazu auf, ein Werkzeug zu werden, seine Hände und Füße zu sein, wie es Teresa von Avila ausgedrückt hat, und seine Liebe in Wort und Tat unter Gottes Volk zu verbreiten. Das ist ein Weg, wie „die Liebe Christi die Welt bewegt“: Durch sein eigenes Beispiel und durch seine Inspiration aller, die ihm nachfolgen.

Unsere Liebe zu Christus sollte in unserer täglichen Antwort auf sein Beispiel sichtbar werden und auf seinen Auftrag, „dies tut zu meinem Gedächtnis“. Doch „dies tut“ kann sich nicht nur auf liturgische Eucharistiefeiern beziehen, sondern auf alles, was Jesus selbst zu unserem Nutzen getan hat (vgl. Johannes-Evangelium 14,12 und die Reden Jesu in den Kapiteln 14-17). „Daran werden sie erkennen, dass ihr meine Jünger seid: dass ihr euch untereinander liebt.“ Einander zu lieben, ist unsere Herausforderung. Christ*innen in den ersten Gemeinden verstanden den zweiten Teil des höchsten Gebots – „den Nächsten zu lieben wie sich selbst“ – so, dass er sich auf zwei Gruppen von Menschen bezieht: diejenigen, die wir bereits kennen, und diejenigen, denen wir noch nicht begegnet sind. Das macht einen gewaltigen Unterschied für unser Verständnis von Mission und Ökumene, ganz zu schweigen von der Begegnung mit Menschen anderen Glaubens oder ohne einen Glauben.

Gnade Gottes verändert, nicht der Missionar

Es gab eine Zeit, in der die römisch-katholische Kirche lehrte, dass es „kein Heil außerhalb der Kirche“ gab, und dass das jüdische Volk als Ganzes „perfide“ Christusmörder waren. Diese Lehre war eine wichtige Triebfeder für die katholische Mission, besonders angesichts der Zersplitterung des Christentums im sechzehnten Jahrhundert. Die Sorge um Erlösung oder Verdammnis führte zu einer Theologie der Evangelisierung, die eng darauf fokussierte, alle anderen zu „bekehren“, egal ob Christ*innen anderer Konfessionen oder „Heiden“. Diese Engführung übertrug die missionarische Initiative von Gott als dem eigentlich Handelnden (mit der Kirche als Instrument) auf die römisch-katholische Kirche. In den Worten von Ramsey MacMullen wurde dies mit „Umschmeicheln oder Geschützen“ (flattery or battery) vorangetrieben. Nicht nur wurde die Bekehrung tatsächlich als in der Macht des Missionars liegend verstanden, sondern Proselytisierung (auch durch Zwang) wurde gerechtfertigt. Doch es ist die Gnade Gottes, die Menschen verändert, nicht der Missionar. Gott sei Dank hat es vom Ökumenischen Rat der Kirchen und vom Zweiten Vatikanischen Konzil eine sehr ernsthafte Revision und deutliche Ablehnung eines solchen Glaubens und Verhaltens gegeben, insbesondere in Bezug auf das jüdische Volk. Zwang ist unmoralisch und sündhaft.

Katholik*innen verstanden das Gebet Jesu, „dass sie alle eins sein werden“, auch als Rechtfertigung für die Errichtung einer universalen Einheitlichkeit: eine weltweite katholische Kirche mit ihrem Zentrum in Rom. Proselyten-machen (Diebstahl von „Schafen“) unter den verschiedenen christlichen Gemeinschaften war weit verbreitet, besonders dort, wo es nur wenige Katecheten oder Geistliche gab. Jede christliche Konfession ist charakteristisch und unterschiedlich in Lehre, Disziplin, Ritual und täglichem Leben der Glaubenden. Die berühmtebWeltmissionskonferenz 1910 in Edinburgh stand unter dem stolzen Motto, die Welt „in dieser Generation“ christlich zu machen. Katholik*innen waren damals im besten Fall in den Gedanken der Konferenzteilnehmer*innen präsent. Ein Jahrhundert später, 2010, kam eine viel umfassendere und ökumenische Versammlung in denselben Räumen in Edinburgh zusammen, die bescheidener in ihren Ambitionen war, die konfessionelle und theologische Unterschiede respektierte und sich des wachsenden Säkularismus sehr bewusst war. Obwohl wir alle, damals wie heute, den einen Herrn, den einen Glauben und die eine Taufe verkünden, sind wir immer noch nicht eins in der Gemeinschaft und haben die Herausforderung, in unserer Vielfalt in Einheit zu leben, nicht gelöst.

Mission und Kirche im Wandel

In der römisch-katholischen Sicht auf Mission haben sich die Schwerpunkte nachhaltig verschoben: Von „die Mission ist ‚der (römisch-katholischen) Kirche‘ anvertraut“ zu „die Mission ist im Wesen der Trinität begründet“; von „das Subjekt der Mission ist die Kirche“ zu „das Subjekt (Quelle und Ursprung) der Mission ist Gott“; von „die Kirche hat die Mission“ zu „Gottes Mission hat eine Kirche“; von „die Aufgabe der kirchlichen Mission ist, die sichtbare Kirche in der ganzen Welt auszubreiten“ zur Verkündigung, dass „die göttliche Mission die ganze Menschheit (und Schöpfung) umfasst“. Es sind nicht nur römisch-katholische Christ*innen, die jetzt die an den Rand gedrängten Menschen (Marginalisierten) im Zentrum von Gottes Mission sehen, und jede Christin und jeder Christ ist mitbeauftragt, das Reich Gottes zu verkünden. In der römisch-katholischen Kirche haben wir uns nachhaltig verändert. Missionare sind nicht nur „die Wenigen, die Elite und die ‚lebenslang‘ Berufenen“, sondern „das ‚Volk Gottes‘ (alle Getauften) ist berufen und mitbeauftragt rauszugehen, Grenzen zu überwinden und zu authentischen, respektvollen Begegnungen mit ‚den Anderen‘ im Namen Jesu“, von „interkonfessioneller Konkurrenz und Misstrauen“ zu „ökumenischer Zusammenarbeit und Gegenseitigkeit“. Hier liegt noch ein weiter Weg vor uns allen, aber in den letzten Jahrzehnten hat es fundamentale Veränderungen im Verständnis und in der Praxis von Mission gegeben.

In der römisch-katholischen Kirche hat es immer eine strukturelle Spannung zwischen Hierarchie und Subsidiarität (oder der Synodalität) gegeben, das heißt, zwischen dem Universalen und dem Lokalen. Je mehr auf der Kirche als einer universalen und geeinten Kirche bestanden wird, desto stärker die Tendenz zur Uniformität – in Liturgie, Sprache und Kirchenrecht. Je mehr die Hierarchie betont wird, desto weniger Möglichkeiten gibt es für die Entwicklung authentischer lokaler Unterschiede und der Vielfalt; folglich wird die Entwicklung blühender lokaler Gemeinschaften untergraben. Dies ist eine ständige Herausforderung für unser Verständnis von „damit sie alle eins seien“. Bedeutet es eins im Glauben oder eins in der Praxis? Die römisch-katholische Kirche betont das Letztere (oder die Universalität), während viele andere Konfessionen das Lokale betonen, manchmal auf Kosten der universellen Solidarität und mit der Folge einer wachsenden Fragmentierung des Leibes Christi. Klare Unterscheidungen zwischen „uns“ und „anderen“ helfen, uns als eine menschliche Gruppe zu definieren und abzugrenzen, aber, wie Oberrabbiner Jonathan Sacks (The Dignity of Difference) uns erinnert, hat Gott unvorstellbare Unterschiede und Vielfalt geschaffen und gesehen, dass es (sehr) gut war.

Verschiedenheit als Bereicherung entdecken

Einheit schließt Vielfalt nicht aus, aber Einheit ohne Vielfalt ist Uniformität. Die Unterschiedenen können durch gegenseitiges Geben und Nehmen wachsen, während Uniformität nicht viel Austausch und gegenseitige Bereicherung zulässt. Der Brief an die Epheser spricht das in einem schönen Bild an. Zunächst wendet sich der Verfasser (angeblich Paulus) an diejenigen, die gerade Christ*innen geworden sind, und vergleicht ihre neue Situation mit ihrem früheren Leben als „Heiden“. Bis vor kurzem, so behauptet er, waren sie „tot“, so wie es auch Paulus und viele andere waren. Durch die Gnade Gottes sind sie jetzt im Glauben, in der Gemeinschaft und in der Nachfolge lebendig und vereint (Eph 2,1-10).

Dann fährt er fort: Jetzt aber in Christus Jesus seid ihr, die ihr einst Ferne wart, Nahe geworden durch das Blut Christi. Denn Er ist unser Friede, der aus beiden eines gemacht hat und den Zaun abgebrochen hat, der dazwischen war, nämlich die Feindschaft. Durch das Opfer seines Leibes hat er abgetan das Gesetz mit seinen Geboten und Satzungen, damit er in sich selber aus den zweien einen neuen Menschen schaffe und Frieden mache. (Eph 2,13-15)

Christliche Mission ist eine Teilhabe an Gottes Mission der Begegnung

Das ist ein wahrhaft göttliches Bild für eine Menschheit, die in ihren unzähligen Unterschieden vereint ist, nicht nur Jude und Nichtjude, sondern in dem ganzen Spektrum von Perspektiven, Meinungen, Auffassungen, Traditionen, Kulturen und Glaubensbekenntnissen. Wir sind ein einziges Menschengeschlecht, jede und jeder von uns ist auf der Suche nach dem tieferen Sinn des Lebens, ist fähig, einen Splitter von Gottes unendlicher Offenbarung zu erfassen, doch niemand von uns ist fähig, das Geheimnis, das Gott ist, auszuschöpfen. Christliche Mission ist eine Teilhabe an Gottes Mission der Begegnung, des gegenseitigen Respekts, des Austauschs und des Wachstums auf den Wegen Gottes. Keine einzelne Person oder Religion kann die Selbstoffenbarung Gottes vollständig erfassen. Aber wir können zusammenarbeiten, um unsere Grenzen zu verstehen, unsere Einsichten zu teilen und unter das zu stellen, was wir nicht vollständig verstehen können.

In der Tat müssen wir zusammenarbeiten: Verschieden in Geschichte, nach Ethnien, Geschlechtern, Konfessionen und allem anderen sind wir als Christus Nachfolgende aufgerufen, in unserer Verschiedenheit die gegenseitige Bereicherung zu entdecken, die Gott uns anbietet, und uns zur gegenseitigen Versöhnung angesichts früherer Verfehlungen, Missverständnisse und Verurteilungen zu verpflichten. Andernfalls verraten wir unsere Berufung als Christ*innen und machen unseren Anspruch, den einen Herrn anzubeten, den einen Glauben zu bekennen und die eine Taufe zu teilen, zu einem Hohn. Möge unser Leben, individuell und kollektiv, ein Zeugnis unseres Glaubens werden, dass die Liebe Christi zu allen Menschen und unsere eigene Liebe zu Christus die Welt verändert hat, verändert und weiterhin verändern wird.

Von Anthony J. Gittins (Übersetzung: Michael Biehl) für das EMW-Themenheft 2021


Zur Person

Anthony J. Gittins, PhD, ist emeritierter Professor für Theologie und Kultur an der Catholic Theological Union in Chicago, USA.

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