Ausklammern löst keine Streitfragen

Weltweit ist vieles strittig. Aber nicht immer wird darüber gestritten. Wenn aber gestritten wird, dann wird nicht immer gut gestritten. Kirchen bilden da keine Ausnahme, besonders dort, wo es um die Erhebung von Wahrheitsansprüchen geht, um Meinungen also, die für sich in einer wie auch immer verstandenen Wirklichkeit begründet Geltung in Anspruch nehmen. Eckhard Zemmrich, Theologischer Referent bei der Evangelischen Mission Weltweit, plädiert für eine bessere ökumenische Streitkultur.

Themen auszuklammern, führt nirgendwo hin. © Foto: Pete Alexopoulos/unsplash | Themen auszuklammern, führt nirgendwo hin.

Innerhalb von Kirchen genauso wie zwischen Kirchen gab es schon immer und gibt es auch heute viel Strittiges, und in weltweiten kirchlichen Vereinigungen wird das vielleicht besonders deutlich, gleichviel, ob es die römisch-katholische Kirche und die anglikanische Weltgemeinschaft betrifft oder lutherische und reformierte Kirchenbünde. Im Ökumenischen Rat der Kirchen zeigt es sich ebenfalls unübersehbar, ebenso wie im ökumenischen Miteinander zwischen den genannten Vereinigungen.

Das, was strittig ist, betrifft dogmatische Lehrfragen ebenso wie ethische Werte und Richtlinien. In der Gegenwart sind das etwa vor dem Hintergrund des Amtsverständnisses die heiß diskutierten Fragen nach der Rolle von Frauen in der Kirche, oder ethisch-moralische Themen wie der Umgang mit Homosexualität und LGBTQIA*-Rechten, oder auch die Frage nach Polygamie und den Voraussetzungen für eine kirchliche Trauung. Die strittigen Positionen sind meist mehr oder weniger identifiziert und profiliert, aber:

Auch wenn es schon immer strittige Themen in der Kirche und zwischen den Kirchen gab, so scheint es doch, dass heute besonders darüber Unklarheit herrscht, nach welchen Regeln und Kriterien über Strittiges auch gestritten werden kann und sollte. Denn in der weltweiten Christenheit greift die Einsicht mehr und mehr Raum, dass es keine irgendwie geartete „Normtheologie“ gibt, von der „kontextuelle Theologien“ abzusetzen und an der sie zu messen wären. Nein, alle Theologie ist kontextuelle Theologie, und selbst die auf den sogenannten ökumenischen Konzilien verabschiedeten Glaubensbekenntnisse und die ihnen entsprechenden Verwerfungen von Gegenpositionen waren nicht nur nach dem Glauben der Kirche vom Heiligen Geist bestimmt, sondern sind in bestimmten Kontexten entstanden, die sie auch prägten. Doch können, wie in den genannten Streitfragen, wirklich alle Positionen gleich gültig sein, ohne gleichgültig zu werden, so dass damit die vorgetragenen Wahrheitsansprüche gar nicht gegeneinander antreten, sondern ausgeklammert werden? Ist das überhaupt möglich bei den genannten Streitfragen nach Frauen- und LGBTQIA*-Rechten?

Strittige Themen werden ausgeklammert, um kirchliche Gemeinschaft nicht zu gefährden

Und wenn nicht, wie lässt sich ein Streit darüber so gestalten, dass für seine Entscheidung keine alten oder neuen Machtansprüche mitentscheidend sind und imperiale Gesten vermieden werden?

Natürlich berufen sich die meisten, die sich im christlichen Bereich positionieren, in ihrer Argumentation auf biblische Grundlagen, und damit auf die Identität dessen, was christlich genannt werden darf. Doch wer entscheidet, welche der jeweils gewählten Bibelstellen gewichtiger ist, und welche Auslegung dem Evangelium besser entspricht? Zumindest im protestantischen Bereich wird von vornherein anerkannt, dass es hierfür keine unfehlbare Instanz gibt.

Ebenfalls berufen sich die meisten auf Traditionen mit Geltungsanspruch – aber mit welcher Tradition muss dann eigentlich Kohärenz nachgewiesen werden? Etwa bei der Frage der Frauenordination kommt man zu keiner Einigung, wenn man sich entweder auf die Übereinstimmung mit der römisch-katholischen oder mit der protestantischen Tradition beruft.

Und natürlich muss eine Ansicht, um Geltung zu erlangen, auch einleuchten; sie muss plausibel und konsensfähig sein. Aber plausibel sind Dinge immer in bestimmten Kontexten – und welcher Kontext darf beanspruchen, der maßgebliche zu sein? In einem postkolonialen Zeitalter stehen zumindest theoretisch alle Kontexte gleichwertig nebeneinander; wer wollte hier die Autorität in Anspruch nehmen, zu gewichten?

Deshalb werden strittige Themen immer wieder ausgeklammert, um kirchliche Gemeinschaft nicht zu gefährden. Das jedoch löst die Streitfragen nicht, sondern hält sie am Leben, ja verhärtet sie im Zweifelsfalle sogar, weil so eine ernsthafte Auseinandersetzung mit anderen Positionen nicht nötig scheint und sie daher stillschweigend abgewertet werden können.

Wenn zwei dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe

Streiten ist Diskurs – bestimmbar als hin- und hergehendes Gespräch, wie es die lateinische Wortbedeutung nahelegt, oder als argumentativer Dialog, wie es der Philosoph Jürgen Habermas definiert, oder ein durch Regeln normierter Gesprächsgang, wie Michel Foucault den Begriff profiliert hat. Letzteres betont besonders, dass es bei Diskursen immer um Diskursmacht geht: argumentativ, vom Procedere her, und im Setting des Diskurses. So sind etwa Tagesordnungsdebatten auf kirchlichen Synoden weltweit sehr beliebt.

Auch die Wahl des Ortes für einen Streit ist nicht immer glücklich: Dass sich online über tiefgreifende Divergenzen schlechter streiten lässt als im persönlichen Gegenüber, ist ein Erfahrungswert der Pandemie, den viele teilen. Doch das gilt ebenso für viele präsentische Treffen.

Und dann ist da noch die Frage der Argumentation: Wenn zwei dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe. Auftreten, Rhetorik, Logik, Psychologie und Suggestionskraft verstärken oder verringern Glaubwürdigkeit, Plausibilität und Anerkennung einer Position. Es gibt viele Mittel, um einen Streit unfair für sich zu entscheiden oder zu eskalieren, falls der Sieg nicht sicher scheint – etwa, indem man versucht, Menschen der Gegenseite persönlich zu diskreditieren.

„Streit“ ist aus all diesen Gründen anstrengend. Er wird weltweit als gegen Harmonie gerichtet verstanden und hat daher oft ein negatives Image. Doch Streit ist unumgänglich, weil es Themen gibt, bei denen wir zwar gegensätzliche Meinungen haben können, bei denen wir aber dabei nicht stehen bleiben können, sondern eine gemeinsame Auffassung benötigen – zumindest sofern wir als Kirchen zusammenbleiben – oder wieder zusammenfinden wollen.

Die Frage ist dann erstens, worum wir streiten, also welche Themen des Streites würdig sind. Hier wurden in der Kirchengeschichte vor allem dogmatische Lehrfragen und immer wieder auch ethisch-moralische Fragestellungen thematisiert. Und zweitens ist die Frage, wie wir streiten, wie wir gut streiten können. Die jüdische Streitkultur in rabbinischer Tradition etwa ist dafür berühmt geworden, dass dort die Freude am Streiten mit Achtung und Respekt einhergeht.

Der Streit über die Lehre hält an, auch wenn er nicht permanent ausgetragen wird

Beide Fragen sind in der Ökumene auch in jüngerer Vergangenheit intensiv bearbeitet worden: Lehrstreitigkeiten zu den Sakramenten, zum Amtsverständnis, zum Verständnis von kirchlicher Einheit und Vielfalt haben zu teils beachtlichen Ergebnissen geführt: etwa zur Leuenberger Konkordie 1973 zwischen lutherischen, reformierten und unierten Kirchen mit ihrer Erklärung von Kirchen- und Sakramentsgemeinschaft. Oder zur Lima-Liturgie Anfang der 80er Jahre mit der Ermöglichung ökumenischer Eucharistiefeier, zur Meißener Gemeinsamen Feststellung 1988 mit der wechselseitigen Anerkennung von Ämtern und Sakramenten zwischen dem Bund der ev. Kirchen der DDR, der EKD und der Kirche von England oder zur Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre 1999 zwischen dem Lutherischen Weltbund und der römisch-katholischen Kirche.

Es haben sich dabei aber auch Grenzen gezeigt – in der Ämteranerkennung und damit auch in der wechselseitigen Anerkennung von Kirchlichkeit und Abendmahl ist derzeit keine Verständigung mit der römisch-katholischen Kirche in Sicht. Der Streit über die Lehre hält also an, auch wenn er nicht permanent ausgetragen, ja mitunter gleichsam ruhiggestellt wird.

Zudem gibt es Themen, die enorme Sprengkraft enthalten für eine bereits erreichte Einheit von Kirchen und Kirchenbünden, und bei denen die Frage ist, wie überhaupt ein Gespräch zustandekommen kann, ohne dass das sprichwörtliche Tischtuch zerschnitten wird. Die Frage nach dem Wie des Streitens erhält hier oberste Priorität, wie sie jüngst etwa die Kommission für Glaube und Kirchenverfassung in einem siebenjährigen Gesprächsprozess zu „Kirchen und moralisch-ethischer Urteilsbildung“ bearbeitet hat. Darin wird ein Analyseinstrument für Streitthemen vorgeschlagen, das zu besserem eigenem und wechselseitigem Verständnis von Strittigem helfen kann. Dieses Instrument wird dort „Brille und Spiegel“ genannt. Es werden hier also einige formale, kontextübergreifende Kriterien für eine Lehre vom Streit benannt, die zur Erprobung empfohlen werden.

Doch nur, wenn neben formalen auch inhaltliche Kriterien gefunden werden können, die kontextübergreifend Geltung beanspruchen dürfen und so dem Streit über die Lehre dienen, werden sich theologische und ethisch-moralische Streitfragen in der weltweiten Christenheit wirklich konstruktiv-ergebnisorientiert, vor allem aber nachhaltig bearbeiten lassen.

Eckhard Zemmrich


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Der Beitrag ist im EMW-Themenheft 2023 „Was mir HEILIG ist“ erschienen. Lesen Sie weitere spannende Beiträge zum Thema.

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