Digitale (Un)Gerechtigkeit

Die Weltvereinigung für Christliche Kommunikation (World Association for Christian Communication, WACC) mit Sitz in Toronto engagiert sich seit über 50 Jahren für den Zugang und die Nutzung von Information und Kommunikation als Menschenrecht. In Zeiten von Covid-19 sehen Sara Speicher und Philip Lee neue Chancen durch die Digitalisierung, aber sie warnen auch vor digitaler Ungerechtigkeit angesichts von mächtigen internationalen Playern, von Fake News, undurchsichtigen Algorithmen und sozialer Ungleichheit.

© Foto: Christin Hume/unsplash

Schon vor dem Ausbruch von Covid-19 war ich daran gewöhnt, aus der Ferne zu kommunizieren – so dachte ich jedenfalls. Ich arbeitete hauptsächlich von meinem Haus in Nordwestengland aus für Organisationen vom kanadischen Toronto bis nach Genf in der Schweiz. Meine Schwestern und Brüder und ihre Familien leben in den USA, ein Teil der Familie meines Mannes lebt in Aotearoa in Neuseeland. Durch meine Arbeit als stellvertretende Generalsekretärin bei der World Association for Christian Communication (WACC) war mir bewusst, dass die digitale Kommunikation – vielleicht mehr als jede andere Form der Kommunikation – ein Menschenrechts-Paradox darstellt: Sie könnte eigentlich ein mächtiges Werkzeug zu sein, um marginalisierten Menschen eine Stimme zu geben. In der Realität jedoch kontrollieren mächtige Unternehmen und Interessen mit der Digitalisierung, was wir wahrnehmen und tun.

Seit ihrer Gründung 1950 durch christliche Rundfunk- und Fernsehanstalten setzt sich die WACC dafür ein, dass alle Menschen Zugang zu Kommunikation und Information haben. Insbesondere marginalisierte und benachteiligte Gemeinschaften sollen dadurch gleichberechtigt und umfassend an der Gesellschaft teilhaben und ihr Leben verbessern können. Dies bedeutet weit mehr, als über entsprechende Geräte oder Breitband-Internet zu verfügen. Es geht darum, ein Umfeld zu schaffen, wo Menschen sich frei ausdrücken können, vertrauenswürdige Nachrichten aus einer Vielzahl von Quellen erhalten, ihre eigene Sprache sprechen, Zugang zu Informationen von öffentlichem Interesse haben, in den Nachrichten fair und gleichberechtigt vertreten sind und vieles mehr.

Die Lockdowns, die Covid-19 bisher begleitet haben, haben keine neuen Kommunikationsprobleme geschaffen. Aber sie haben die Nutzung einer Vielzahl von digitalen Tools massiv beschleunigt. Während eines Kurses von UK Media Trust im August 2020 sagte ein Marketingexperte, in den vergangenen fünf Monaten habe die digitale Nutzung so zugenommen, wie sonst nur in fünf Jahren.

Digitalisierung ist für viele unerschwinglich

Millionen von uns wurden abhängig von Systemen, mit denen sie von zu Hause aus arbeiten oder lernen können. Das Videokonferenz-System Zoom berichtete schon im April von täglich 300 Millionen Sitzungsteilnehmenden, verglichen mit 10 Millionen im Dezember 2019. Microsoft-Teams verzeichnete einen Anstieg der Nutzung um 70 Prozent. Laut einer US-amerikanischen Studie, über die in der New York Times berichtet wurde, hatte die Nutzung von Video-Chats zur Unterhaltung mit Freunden um bis zu 80 Prozent zugenommen. Ähnliche Entwicklungen gab es beim Entertainment (Netflix, YouTube, Streaming-Dienste) und bei sozialen Medien wie Facebook. Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) warb für verlässliche Informationen über Covid-19 für Kirchen, Interviews, Online-Treffen, Gebete und Webinare – er verzeichnete einen Anstieg der Website-Nutzung um fast 45 Prozent.

Zwar gibt es einige Anzeichen dafür, dass sich das bisherige schnelle Tempo des digitalen Wachstums wieder verlangsamt, doch der Sprung für Millionen von Menschen in neue Formen der digitalen Kommunikation wird bleiben und unser Leben verändern. Deshalb muss sich jetzt auch unser Bewusstsein nicht nur für ihr positives Potenzial, sondern auch für die Möglichkeiten wachsender Ungerechtigkeit ebenfalls beschleunigen. Beide Seiten brauchen eine Antwort aus dem christlichen Glauben.

Viele Organisationen, die Versammlungen, Konferenzen und sogar Gottesdienste online abgehalten haben, fanden sie jetzt geografisch integrativer und kooperativer: Bei Bibelarbeiten konnten Menschen aus verschiedenen Ländern ihre Perspektive live einbringen. Mitarbeitende im globalen Norden und im globalen Süden konnten gleichermaßen an Treffen teilnehmen. Konferenzen, die bisher auf diejenigen beschränkt waren, die sich das Reisen leisten konnten, standen nun allen mit digitalem Zugang offen. So konnten Lernprozesse und Erkenntnisse viel breiter geteilt werden. Und es wurden weniger Flugreisen unternommen, was wiederum positive Auswirkungen auf die Umwelt hat.

Aber gleichzeitig mit der Möglichkeit, weltweit mehr Menschen einzubeziehen, besteht auch eine digitale Kluft. Dadurch kann wiederum die Chancenungleichheit verschärft werden. Menschen ohne Zugang zu Breitband- oder robusten 4G-Netzen „können nicht vom Fernunterricht für Kinder, von Telearbeit, vom Zugang zum elektronischen Handel und von Gesundheitsinformationen profitieren“, stellt die International Telecommunications Union (ITU) fest, eine Sonderorganisation der UN in Genf. Außerdem verstärken weitere Faktoren die Unterschiede beim praktischen Zugang zu digitalen Technologien: Armut, zu hohe Kosten, digitaler Analphabetismus sowie der doppelte Nachteil, eine Frau oder Mitglied einer marginalisierten Gruppe zu sein. Ein zentrales Thema digitaler Gerechtigkeit ist das Eintreten für Zugang, Erschwinglichkeit und digitale Aufklärung.

Unsere Daten sind die Währung, in der wir zahlen

Es geht jedoch nicht einfach darum, digitale Unternehmen dazu zu bringen, den freien Zugang zu ihren Plattformen und Diensten auszuweiten, denn eines haben wir gelernt: Es ist niemals kostenlos.

Unsere Vorlieben und unser Verhalten, unser Standort und unzählige andere persönliche Daten sind das neue wirtschaftliche Gold. Die sozialen Plattformen, die wir nutzen, sammeln Details darüber, wie wir ihre Dienste nutzen. So können sie die Werbung, die den Großteil ihrer Einnahmen ausmacht, gezielt einsetzen. Der Skandal um das Datenanalyse-Unternehmen Cambridge Analytica 2018 etwa, das versuchte auf US-Wahlen Einfluss zu nehmen, hat auch gezeigt, wie das Datensammeln – legal und illegal – dazu benutzt wird, politische Botschaften systematisch zu verbreiten. Schon damals war Cambridge Analytica nur eines von rund 180 digitalen Unternehmen, die mit Akteuren aus Wirtschaft und Politik weltweit zusammenarbeiteten.

Ob aus Profitgründen oder aus politischem Interesse: Digitale Kommunikationsplattformen nutzen unsere Daten über Algorithmen. „Beliebte“ Inhalte werden gepusht, Werbung und Botschaften werden auf unsere Vorlieben und Abneigungen zugeschnitten. Mit dem zunehmenden Einsatz von „persönlichen Assistenten“ wie Alexa von Amazon oder Covid-Tracing-Apps, die von Regierungen entwickelt werden, können unsere privaten Daten jeden Winkel unseres öffentlichen und privaten Lebens betreffen. Sie können sowohl für unsere Bequemlichkeit und Gesundheit als auch für Zensur und Kontrolle verwendet werden. Allein schon deswegen müssen Prinzipien wie Vielfalt, Respekt, Dialog und Rechenschaftspflicht zentrale Pfeiler unserer Kampagne für digitale Gerechtigkeit sein.

In der digitalen Welt ist die Wahrheit bedroht

Als Social Media-Plattformen sich erstmals etablierten, war ein Teil des aufregenden Versprechens die Fähigkeit, externe Kontrollen der Kommunikation zu umgehen und uns frei und individuell ausdrücken zu können. Jetzt sehen wir eine zunehmende Manipulation, die dem Einzelnen nur noch die Illusion einer freien Meinungsäusserung vermittelt. Dies ist zum Teil auf Algorithmen zurückzuführen, die solche Plattformen verwenden und die oft kontroverse oder sensationslüsterne Inhalte „belohnen“: Dadurch, dass sie an die Spitze der Nachrichten-Feeds gerückt werden, gehen sie mit größerer Wahrscheinlichkeit viral.

Ohne die Strenge des investigativen Journalismus sind die Menschen Halbwahrheiten und Lügen ausgesetzt. Unabhängige Medien sind bereits durch die Umleitung von Werbeeinnahmen auf Social Media-Plattformen existenziell bedroht. Nun sehen sie sich zusätzlich mit öffentlichem Misstrauen konfrontiert, das von einigen politischen Interessen gefördert wird. Annie Game, Vorstandsmitglied von IFEX, einem globalen Netzwerk zur Förderung der Meinungsfreiheit, sagt dazu:
„Trotz der Bemühungen um eine rechtzeitige Überprüfung der Fakten und eine verantwortungsbewusste Moderation von Inhalten ist es viel einfacher, Fehlinformationen zu verbreiten, als ihnen entgegenzuwirken. Die Lüge verbreitet sich viral, die Korrektur im Allgemeinen nicht. Das Problem wird noch dadurch verschärft, dass einige Staats- und Regierungschefs der Welt diese Krise und das Podium, das sie ihnen bietet, dazu missbrauchen, um ihre Botschaften zu platzieren und Medien zu verunglimpfen. Dadurch wird Verwirrung und Misstrauen unter den Menschen gesät, die bereits unter der Pandemie leiden und eigentlich dringend Antworten benötigen.“

Wir beobachten auch eine Zunahme von Online-Hassreden, die in manchen Kreisen als „Meinungsfreiheit“ gerechtfertigt werden. Die Ausübung dieser „Meinungsfreiheit“ durch einige Menschen ist in Wirklichkeit jedoch missbräuchlich und gewalttätig. Sie erstickt die Meinungsäußerung anderer Einzelpersonen und gefährdeter Gruppen wie Frauen und Migrant*innen. Die Furcht vor gezielten Beschimpfungen und Drohungen senkt die Bereitschaft, sich online zu äußern und an einer kritischen Debatte zu beteiligen. Im Sinne der digitalen Gerechtigkeit dürfen wir jedoch nicht zu Online-Hass und Fehlinformationen schweigen. Als Einzelne, Kirchen und Organisationen müssen wir uns online und offline in einen respektvollen Austausch begeben. Wir müssen vertrauenswürdige Nachrichten teilen und unterstützen. Und wir müssen uns für diejenigen einsetzen, die vom Hass betroffen sind.

Mehr soziale Gerechtigkeit im digitalen Zeitalter

Die Covid-19-Pandemie hat diese und viele andere Probleme weiter verschärft. Es ist nun ein noch dringenderes Anliegen, Gerechtigkeit in den Mittelpunkt unserer digitalen Zukunft zu stellen. Tatsächlich bietet die Pandemie aber auch für einige die Chance eines gesellschaftlichen „Neustarts“ und verbesserten Wiederaufbaus sowie die Möglichkeit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung in unsere politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Systeme zu integrieren. UN-Generalsekretär António Guterres hat erklärt: „Jetzt ist es an der Zeit, unsere Anstrengungen zu verdoppeln, um integrativere und nachhaltigere Volkswirtschaften und Gesellschaften aufzubauen, die angesichts von Pandemien, Klimawandel und anderen globalen Herausforderungen widerstandsfähiger sind. Der Aufschwung muss zu einer anderen Wirtschaft führen.“

Die WACC und der Ökumenische Rat der Kirchen befassen sich zusammen mit der Evangelischen Mission Weltweit (EMW), der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Brot für die Welt und dem Christlichen Studentenweltbund mit diesen theologischen, ethischen, sozialen und Gerechtigkeitsfragen und bereiten derzeit ein Symposium über Kommunikation für soziale Gerechtigkeit im digitalen Zeitalter vor, das im September 2021 stattfinden soll.

Mit ihrem einzigartigen Netzwerk von Basisgemeinschaften, Medienagenturen, Akademiker*innen und Aktivist*innen der Zivilgesellschaft befasst sich die WACC ihrerseits mit digitaler Gerechtigkeit, die eine ihrer Prioritäten ist. Wir sind uns sehr bewusst, dass es ohne Kommunikation nicht möglich ist, die Spaltungen zu heilen und eine Zukunft in Solidarität zu gestalten. Dieselben digitalen Plattformen, die heute Gerüchte, Fehlinformationen und gefälschte Nachrichten anheizen, sind auch unerlässlich dafür, uns miteinander zu vernetzen. Sie können zu einem besseren Verständnis zwischen den Menschen, zu einer größeren Beteiligung und zu mehr Rechenschaftspflicht privater und öffentlicher Einrichtungen beitragen.

Aber das setzt voraus, dass wir alle die digitalen Werkzeuge aktiv und bewusst nutzen, dass wir uns für eine wirksame und unabhängige Überwachung und Regulierung der Technologie einsetzen, dass wir weiterhin online und offline unser Engagement für Liebe, Einheit und Versöhnung sichtbar machen. Dann können wir uns auf eine digitale Zukunft freuen, in der Menschen und Gesellschaften mit all der Fantasie und Kreativität kommunizieren können, die uns zur Verfügung steht.

Sara Speicher ist stellvertretende Generalsekretärin und Philip Lee Generalsekretär der Weltvereinigung für Christliche Kommunikation (WACC).

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Online durch die Pandemie

Mit Covid-19 hat sich eine todbringende Pandemie erstmals global verbreitet, mit weitreichenden Folgen auf allen Ebenen, auch für Mobilität und Kommunikation in Kirche, Mission und weltweiter Ökumene. Die Pandemie hat großes Leid verursacht, aber sie hat auch neue kreative Kräfte und Erfahrungen ermöglicht. Davon erzählen die gut 20 Autor*innen des Jahrbuchs 2021.

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