Es geht um weit mehr als das Kopftuch

Es gibt keine Gleichberechtigung. Die Scharia bestimmt das Leben der Frauen im Iran. Sie werden gesetzlich und gesellschaftlich diskriminiert. Das Kopftuch ist ebenfalls Zeichen dieser Diskriminierung. Seit dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini im September 2022 reißen die Proteste im Land nicht ab. Sie war von der Polizei wegen eines nicht korrekt getragenen Kopftuchs festgenommen worden und wenig später verstorben. Zentraler Slogan dieser Proteste, die auch international immer wieder zu Solidaritätsdemonstrationen führen, ist „Jin, Jiyan, Azadi“ („Frau, Freiheit, Leben“). Kirsten Wolandt, selbst sechs Jahre Pfarrerin im Iran, erklärt im Interview ihre Einschätzung der derzeitigen Lage im Iran.

International gibt es viele Solidaritätsdemonstrationen, wie am Trafalgar Square in London. © Foto: Neil Webb/unsplash | International gibt es viele Solidaritätsdemonstrationen, wie am Trafalgar Square in London.

Kirsten Wolandt, Sie haben selbst länger im Iran gelebt und gearbeitet. Haben Sie selbst dort Kopftuch getragen?

Ich habe von Juli 2016 bis Juli 2022 als Pfarrerin der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Teheran gelebt und gearbeitet. Wie jede Frau im Iran habe ich in der Öffentlichkeit ein Kopftuch getragen. Dabei muss ich sagen, dass es natürlich Unterschiede gibt, das Kopftuch anzuziehen: Eng anliegend oder mehr locker. In den sechs Jahren meines Aufenthalts konnte ich auch beobachten, wie sich Grenzen verschoben haben. In den letzten Monaten vor meiner Rückkehr habe ich immer mehr Frauen ohne Kopftuch gesehen – zumindest in den eher wohlhabenden und weniger konservativen Gegenden im Teheraner Norden, wo sich auch die Kirche der deutschsprachigen Gemeinde befindet.

Wie haben Sie das erlebt?

Wenn die Regeln so klar sind, hält man sich erst mal daran. Gegen Ende meiner Zeit bin ich dann auch viel mit „heruntergerutschtem“ Kopftuch unterwegs gewesen, so wie andere Iranerinnen auch. Das hat gelegentlich zu Diskussionen geführt, mit Polizisten, aber auch Frauen, die mich „auf den rechten Weg weisen“ wollten. In einer konservativen oder ländlichen Umgebung bin ich zurückhaltender gewesen, weil es auch als ein Signal von „Sittenlosigkeit“ hätte missverstanden werden können.

Trotzdem nervt es natürlich, wenn man bei Hitze mit langen Ärmeln und langer Hose (eigentlich ja auch geschlossenen Schuhen) unterwegs sein muss. Oder wenn unterwegs jeder Mann in seiner Unterhose am Strand zum Baden spazieren kann und man selbst komplett angezogen, inklusive Hijab, ins Wasser gehen soll. Auf der anderen Seite gibt es Einschränkungen für die Frauen, die viel gravierender sind als das Kopftuch. Mit dem kann man sich arrangieren.

Warum hat das Kopftuch im Iran so eine große Bedeutung? Wieso gehört es zur Kleidervorschrift?

Für den iranischen Staat ist das Kopftuch ein Zeichen, dass das System Islamischer Staat funktioniert. Die Durchsetzung der Kleidervorschriften ist so etwas wie ein Gradmesser. Er zeigt der Staatsgewalt, dass auch alle anderen Regeln befolgt werden und dass man das Leben der Bevölkerung unter Kontrolle hat.

Wie schätzen Sie die momentane Lage der Frauen und die Frauenrechte im Iran generell ein?

„Jin, Jiyan, Azadi“, „Frau, Freiheit, Leben“ oder „Woman, Life, Freedom“ steht auf den Plakaten von Protestierenden rund um die Welt. © Foto: Tianlei Wu/unsplash | „Jin, Jiyan, Azadi“, „Frau, Freiheit, Leben“ oder „Woman, Life, Freedom“ steht auf den Plakaten von Protestierenden rund um die Welt.

Es gibt viele sehr selbstbewusste, gut ausgebildete Frauen im Iran. Der Anteil studierender Frauen an den Universitäten ist höher als der der Männer. Trotzdem brauchen Frauen für vieles die Unterschrift ihrer Väter oder später der Ehemänner. Ihre Aussage bei Gericht zählt weniger.

Viele Frauen, die sich für Frauenrechte starkgemacht haben, haben inzwischen das Land verlassen müssen. Offizielle Organisationen, die sich für Frauenrechte einsetzen, sind wie sehr viele andere NGOs verboten. Das bedeutet, dass Frauen, die etwas ändern wollen, eher in informellen Kreisen agieren müssen. Jeder Frau ist bewusst, dass sie durch ein verändertes Verhalten ein Zeichen setzen kann.

Wie unterscheiden sich die jetzigen Proteste von früheren Protesten?

2009 mit der „grünen Revolution“ gab es große Proteste gegen die gefälschte Wahl, die blutig niedergeschlagen wurden. Ebenso die Unruhen 2019 gegen die Erhöhung der Benzinpreise, bei denen rund 1000 Menschen ums Leben gekommen sind. In der Zeit meines Aufenthaltes hat es immer wieder Proteste gegeben, u. a. wegen Wasserknappheit, fehlender Löhne, schlechter Arbeitsbedingungen. Überall im Land und von unterschiedlichen Gruppierungen. Neu scheint mir, dass die Proteste jetzt ein weiteres Spektrum umfassen und ausgeprägt politisch sind. Sie richten sich gegen ein Unrechtsregime, das die Freiheitsrechte seiner Bürger*innen massiv einschränkt. Da geht es um weit mehr als das Kopftuch, sondern darum, die eigene Meinung frei zu äußern, um gerechte Gerichtsverfahren, freie Wahlen, darum, das eigene Leben frei gestalten zu können – wozu ja im Übrigen auch gehört, über die eigene Religion frei entscheiden zu können.

Können solidarische Bekenntnisse aus dem Ausland, wie z. B. von der EKD, helfen?

Ich halte sichtbare Zeichen der Solidarität für unbedingt notwendig. Menschen, gerade auch sehr junge Menschen, riskieren im Iran ihr Leben. Indem wir das deutlich machen unterstützen wir gleichzeitig das Thema „Einhaltung der Menschenrechte im Iran“. Das wird von Seiten der Protestierenden definitiv wahrgenommen.

Dagegen steht das offizielle Narrativ im Iran, dass die Proteste vom Ausland gesteuert sind. Von daher wird sich die Führung davon relativ wenig beeindrucken lassen und mit allen Mitteln versuchen, die Proteste niederzuschlagen. Solange es allerdings eine weltweite Öffentlichkeit gibt, kann man hoffen, dass sie in der Ausübung von Gewalt zurückhaltender agiert.

Wie schätzen Sie die Chance der Protestierenden auf Erfolg ein, dass sich gesellschaftlich etwas im Iran ändert?

Kirsten Wolandt © Foto: Missionsakademie | Kirsten Wolandt

Es hat sich ja bereits eine Menge geändert: Dass Menschen überhaupt in so großer Zahl auf ganz unterschiedliche Weise und seit so langer Zeit protestieren. Und dass sie das tun trotz aller persönlichen Gefährdung. Dazu muss man sehen, dass es viel mehr Menschen gibt, die die Proteste unterstützen, sich aber nicht in die Öffentlichkeit begeben. Sie haben sicherlich unterschiedliche Gründe für den Wunsch nach Veränderung. Sollten auch diese Menschen sich beteiligen, wird sich der Druck auf das Regime weiter erhöhen und es wird sich etwas ändern müssen. Von daher hat das Regime das Interesse, die Proteste schnell zu beenden.

Gleichzeitig darf man nicht vergessen, wie viele Menschen vom jetzigen System profitieren bzw. von ihm abhängig sind. Sie erhalten finanzielle Vergünstigungen, Arbeitsplätze, Studienplätze – diese Menschen stehen, zumindest jetzt noch, sicherlich gegen grundlegende Veränderungen.

Gäbe es etwas (z. B. weltpolitisch), was zu einem Erfolg beitragen könnte?

Ich glaube zunächst einmal sind die Iraner*innen (selbst)bewusst genug, für ihre Rechte einzustehen. Es ist ihr Land, für das sie sich Reformen erhoffen. Im Lauf der Zeit haben immer wieder ausländische Mächte in die Geschicke des Landes eingegriffen (die Ermordung des iranischen Premierministers Mossadegh und die Abdankung von Reza Schah sind nur wenige Beispiele). Die wirtschaftlichen Sanktionen der letzten Jahre haben die normale Bevölkerung an den Rand der Existenzmöglichkeiten gebracht und die Armut in der Bevölkerung massiv ansteigen lassen – das konnte ich hautnah bei meinen Bekannten erleben.

Das Wichtigste derzeit scheint mir, dass die Öffentlichkeit die Geschehnisse im Iran bewusst verfolgt. Dazu braucht es eine Presse und Politiker*innen, die sich so oft und so konkret wie möglich damit befassen.

Das Interview führte Tanja Stünckel.


Zur Person:

Kirsten Wolandt studierte in Bonn und Heidelberg Theologie. Sie ist verheiratet und hat drei erwachsene Töchter. Ihr Interesse gilt der Frage nach einem interkulturellen und praktischen Glauben in einer zunehmend kirchenfernen und individualisierten Welt. Als Pfarrerin arbeitete sie schon an verschiedenen Orten der Welt, in Deutschland, Nigeria, Ghana und dem Iran. Aktuell ist sie Studienleiterin an der Missionsakademie in Hamburg.

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