Gleichberechtigung – ein langer Weg

Ein Interview über Rollenbilder, patriarchale Strukturen und ein besonderes Frauen-Duo, das beharrlich für Veränderung und mehr Rechte und Chancen für Frauen in Tansanias Gesellschaft und Kirchen gekämpft hat.

Claudia Zeising hat fast zehn Jahre mit Frauen in Tansania gearbeitet. © Foto: privat | Claudia Zeising hat fast zehn Jahre mit Frauen in Tansania gearbeitet.

Claudia Zeising, Sie haben viele Jahre in Tansania gelebt, können Sie beschreiben, wie die gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen und Gegebenheiten dort sind?

Tansania ist ein riesiges Land ungefähr 2,5-mal so groß wie Deutschland und in Relation dazu dann dünn besiedelt. Es hat so zwischen 55 und 60 Millionen Einwohner*innen. Was viele Leute unterschätzen, das gilt für die meisten afrikanischen Länder, genau wie hier, wo wir die Norddeutschen und die Süddeutschen haben, die auch alle ein bisschen unterschiedlich sind, haben wir das auch in Afrika – nur im weit größeren Maße. Tansania allein hat, meine ich, ca. 120 verschiedene Sprachen und Volksstämme, die über das Land verteilt sind.

Die einheitliche Amtssprache ist Swahili. Und jeder Volkstamm hat noch seine eigene Sprache. Es wird innerhalb Tansanias sehr wenig Englisch gesprochen. Die Volksstämme sind auch alle nicht unbedingt gleich in ihrer Art. Im Norden bei Kenia haben wir die Chagga. Das ist eine sehr dynamische Volksgruppe, die ähnlich wie die Massai gern Handel treibt und in dem Bereich sehr aktiv ist. Ich war im äußersten Südwesten. Da sind überwiegend die Nyakyusa und die sind, wie ich immer gesagt habe, ein kleines, manchmal schrulliges Bergvolk, weswegen sich die Schweizer Missionare, glaube ich, dort angesiedelt haben, es ist ihnen in vielem ähnlich. Ich habe als internationale Mitarbeiterin für die Schweizer Missionsorganisation Mission 21 in Rungwe im Südwesten Tansanias gearbeitet. Rungwe ist eine Missionsstation, die ursprünglich von Schweizer Missionaren gegründet worden ist.

Das heißt, wir haben innerhalb des Landes sehr verschiedene Volksgruppen mit sehr vielen verschiedenen Eigenarten, die sich regional auch vermischen, aber trotzdem ist jede Gruppe auch für sich. Wenn ich mit Menschen in Europa rede, ist es schwierig, diese regionalen Unterschiede in Tansania zu vermitteln. Denn für viele ist ja schon Afrika eins. In Afrika gibt es Giraffen und wilde Tiere, Rundhütten und Wüsten und das war’s. Dabei ist es ein Kontinent mit 52 unterschiedlichen Ländern und vielfältigen Landschaften.

Sie haben beinahe zehn Jahre lang in Tansania Frauenarbeit gemacht. Wie ist die Stellung von Frauen in der tansanischen Kultur?

Ich habe 1985 das erste Mal in Afrika gearbeitet, in Südafrika. Und war erschrocken, wie wenig Macht und Rechte die Frauen hatten. Als ich dann mehr als 25 Jahre später nach Tansania kam, habe ich festgestellt, dass es da noch schlimmer ist, als es damals in Südafrika war. Aber ich muss dazusagen, es gibt ein starkes Gefälle von Stadt zu Land. Das System ist prinzipiell massiv patriarchalisch. In den ländlichen Regionen ist es so, dass die Tochter dem Vater unterstellt ist, und als Frau nichts zählt. Wenn die Frau heiratet, ist sie ihrem Mann unterstellt. Wenn sie nicht heiratet und der Vater nicht mehr da ist, dann kontrolliert der Bruder oder der Onkel das Leben der Frau und bestimmt, was passiert. Das geht sogar so weit, dass es Frauen gibt, die sich als Ehrerbietung für den Mann flach auf den Boden legen, sobald einer den Raum betritt. Das hat mich immer sehr aufgebracht. Aber das ist tatsächlich im System so angelegt. Beispielsweise bei einer Eheschließung in der Kirche, kniet die Frau die ganze Zeit vor dem Mann. Sie stehen nicht nebeneinander oder gucken sich in die Augen. Sie kniet immer und dabei ist völlig egal, welchen Bildungsstand die Frau hat.

Wie wirkt sich dieses Umfeld auf die Frauen und ihre Chancen für ihr Leben aus?

Die Frauen müssen sich in einer patriarchalen Hierarchie behaupten. © Foto: privat | Die Frauen müssen sich in einer patriarchalen Hierarchie behaupten.

Die Hierarchie ist eindeutig männlich und das macht das Leben für Frauen sehr schwierig, weil es auch den Zugang zu Bildung erschwert. Im Ländlichen ist es immer noch so, dass viele Väter nicht einsehen, warum ihre Töchter überhaupt in die Schule gehen sollen. Es gibt eine Schulpflicht, aber spätestens danach ist es vorbei, egal wie gut die Noten sind. Es ist bis heute sehr schwer für Mädchen, in weiterführende Schulen oder noch weiter zu kommen. Dies liegt unter anderem auch an den Kosten, selbst an staatlichen Schulen, für Uniform, Material, Kopien usw. Da viele Familien über wenig Geld verfügen, wird es eher in die Ausbildung von Jungen investiert.

Bildung ist überwiegend noch ein Privileg für wohlhabende Familien. In der Stadt gibt es natürlich junge Frauen, die selbstständiger sind, die vielleicht das Glück hatten, einen Abschluss zu machen, zu studieren und sich selbst finanzieren zu können. Und doch ist noch das höchste Ziel für viele dieser Frauen, dass sie heiraten. Aber in dem Moment, wo sie heiraten, verlieren sie fast immer ihre Macht und ihr Stimmrecht.

Wenn ich bei Frauentreffen gefragt habe: „Was wünscht ihr euch? Wo wollt ihr in fünf Jahren sein?“, und wenn junge Frauen sagten: „Ich suche einen Ehemann“, war es sehr interessant zu sehen, wie die älteren Frauen versucht haben, den jüngeren zu erklären, was es bedeutet zu heiraten und ihnen davon abgeraten haben. Dieses langsame Aufweichen von Rollenbildern bleibt nicht ohne Probleme und führt dazu, dass sich junge Männer teilweise darüber beschweren, dass die Frauen nicht mehr heiraten wollen, und sie zu aufmüpfig finden. Oder es kommt vor, dass sich junge Frauen relativ alte Männer suchen, die sich mit der jungen Frau zwar schmücken, sie aber eher machen lassen, was sie will. Das sind interessante Entwicklungen, die auf lange Sicht sicher etwas verändern werden.

Sie haben gemeinsam mit einer ortsansässigen Partnerin, Melania Mrema Kyando, die Frauenarbeit gemacht. Provokativ gefragt: Warum musste denn eine Weiße kommen, um den Frauen in Tansania bei ihrer Emanzipation zu helfen? Das klingt doch sehr kolonialistisch. Wie sehen Sie Ihre Rolle hierbei?

Das sehe ich genau wie Sie. Ich muss dazu Folgendes sagen: Bevor ich 1985 nach Südafrika bin, war ich – sagen wir mal – leicht feministisch. Afrika hat das extrem verstärkt. Damals bin ich noch mit relativ neutralem Ansatz an meine Arbeit gegangen. In den 80er Jahren habe ich dann angefangen, mehr und mehr mit Frauen zu arbeiten. Und damals auch noch klar mit dem Anspruch, diese Frauen zu verändern und voranzubringen – sie aufmüpfiger zu machen. Ich würde „Frauen aufwiegeln“ hat mir auch mal mein Chef vorgeworfen. Jetzt war ich über 30 Jahre in diesem Bereich tätig. Ich sehe das inzwischen anders.

Als ich mit Mission 21 nach Rungwe bin, habe ich das ohne fertiges Programm gemacht. Mir war es wichtig, die Frauen zu fragen, was sie wollen und was sie von mir erwarten. Es gab natürlich da auch eine Diskrepanz. Die Kirchenleitung, rein männlich bis heute, hat klipp und klar gesagt: „Du kommst hierher, du bringst Geld mit, du machst hier großartige Sachen und wir haben ein tolles Werbe- und Aushängeschild.“ Aber die Frage war doch: Was wollen die Frauen? Und ich habe fast zwei Jahre damit verbracht, gemeinsam mit Melania in jede der über 140 Gemeinden zu fahren. Und es wurde klar: Sie wollten eine Chance, eigenes Geld verdienen zu können für die Familie. Also haben wir beispielsweise eine Nähgruppe ins Leben gerufen.

In den Seminaren wurde vor allem am Selbstwert der Frauen gearbeitet. © Foto: privat | In den Seminaren wurde vor allem am Selbstwert der Frauen gearbeitet.

Aber Weiterentwicklung dauert. Mein Ansatz ist Wissenstransfer. Aber der kann nur dann funktionieren, wenn das Gegenüber nicht nur bereit ist, zu lernen, sondern auch einen gewissen Selbstwert hat. Wenn die Person jedoch der Meinung ist, ich bin nichts wert, ich kann das sowieso nicht, dann funktioniert es nicht. In den Köpfen vieler Frauen und Mädchen ist sehr tief verankert, dass ihre ganze Arbeit völlig selbstverständlich ist und ihr kein Wert beigemessen wird. Und deswegen haben Melania und ich in den Seminaren zunächst am Selbstwert gearbeitet.

Und jetzt nochmal zurück zur Hautfarbe: Ich habe zu den Frauen immer gesagt, guckt nicht auf meine Hautfarbe. Ich bin eine Frau. Uns verbindet das Frausein: Ich habe drei Kinder allein großgezogen, weil mein Mann mich verlassen hat, wegen einer anderen Frau. Ich habe meine Großmutter gepflegt, so wie ihr das tut. Ich habe die Windeln bei meinen Kindern gewechselt, die sich genauso dreckig gemacht haben wie eure. Was uns verbindet, ist das Frausein, unabhängig von der Hautfarbe. Aber das koloniale Wissen sitzt doch noch recht tief. Gerade die Zusammenarbeit mit Melania hat Vertrauen geschaffen und vieles erst ermöglicht.

Sie waren mit Ihrer Arbeit vor allem an die Moravian Church angegliedert. Wie ist die Situation der Frauen innerhalb der Kirche?

Die Moravian Church besteht fast zu 90 Prozent aus Frauen. Es gibt auch sehr viele Frauen, die eine theologische Ausbildung durchlaufen und ordiniert werden. Ich war selbst sogar mal auf einer Massenordination, wo 30 Frauen ordiniert wurden. Aber es gibt so gut wie keine Frau, die eine eigene Gemeinde hat. Das Argument der Männer ist dann meist: Die Gemeinde wolle keine Frau als Pfarrperson.

Und wie wird mit den Frauen als Gemeindeglieder umgegangen?

Da Frauen die Mehrheit sind und die meiste Arbeit in der Gemeinde machen, werden sie natürlich geschätzt und von der Kirchenleitung für ihre tolle Arbeit gelobt. Und damit, dass man ihnen, bildlich gesprochen, über den Rücken streichelt und sagt „Hast du gut gemacht“ sind sie oft zufrieden.

Macht Sie das wütend?

Claudia Zeising © Foto: privat | Claudia Zeising

Manchmal ja. Es wird versucht, die Frauen klein zu halten. Zum Beispiel wenn die Frauen im März das traditionelle Fundraising betreiben, in dem viel Geld zusammenkommt, ist es in der Provinz, zu der Rungwe gehört so, dass die Frauen 50 Prozent davon für ihre Frauenarbeit behalten und die anderen 50 Prozent in den allgemeinen Kirchen-Topf kommt.

Dies ist in der Kirchenverfassung so geregelt. In anderen Provinzen gibt es diese Klausel nicht. Hier geben die Frauen 100 Prozent in den allgemeinen Kirchen-Topf und müssen später für die Frauenarbeit oder ihre Projekte um Geld bitten. Und das war immer ein Kampf. Und auch in Rungwe hat man mit jeder Generalversammlung versucht, die Klausel abzuschaffen und den Frauen ihre gesicherten 50 Prozent abzunehmen.

Es gab auch in unserer Frauenarbeit immer mal Situationen, in denen sich die männliche Kirchenleitung zwar mit dem großen, auch finanziellen Erfolg der Frauen gebrüstet hat, aber gleichzeitig überlegt hat, wie sie denn von diesem Geld etwas abbekommen könnte – wohlgemerkt ohne die Absicht, es zurückzuzahlen. Melania hat sie in solchen Situationen immer an mich verwiesen. Und mich haben sich die Vertreter der Kirchenleitung dann meist nicht mehr getraut zu fragen.

Wie und warum hat sich in den fast zehn Jahren, die Sie in der Südprovinz Tansanias gelebt haben, die Situation der Frauen verändert?

Die Situation der Frauen hat sich tatsächlich verändert. Es ist, glaube ich, eher subtil, aber es wurde nach meinem Weggehen, und zwar vor anderthalb Jahren, zum ersten Mal auch eine Frau in die obere Kirchenhierarchie gewählt. Und mein Chef aus der Schweiz schrieb mir: „Ich glaube, deine Saat geht auf.“ Sie geht auch insofern auf, als dass es wirklich mehr Frauen mit Selbstbewusstsein gibt, die für sich selber eintreten – auch und gerade innerhalb der Kirche.

Das Interview führte Tanja Stünckel.


Zur Person

Claudia Zeising studierte Landwirtschaft mit Schwerpunkt Tropen und war 1985 zum ersten Mal in Afrika. Seitdem immer wieder an unterschiedlichen Stellen. Zuletzt beinahe zehn Jahre in Tansania. Im Laufe der Jahre verlagerte sich ihr Arbeitsschwerpunkt in die Frauenarbeit, Ernährungssicherung und Einkommen schaffende Maßnahmen. Sie ist 66 Jahre alt, hat drei erwachsene Kinder und zwei Enkelkinder.


Buch-Tipp

Claudia Zeising: Zwei Frauen – Zwei Welten – Eine Seele, Mein Buch, ISBN: 978-3-03877-070-1 Claudia Zeising: Zwei Frauen – Zwei Welten – Eine Seele, Mein Buch, ISBN: 978-3-03877-070-1

Zwei Frauen – Zwei Welten – Eine Seele, Claudia Zeising

Dieses Buch erzählt die Geschichte einer Frauenfreundschaft und der Entwicklung eines intensiven Miteinanders im Kontext unterschiedlicher Lebenswelten.

Ein sehr berührender Text, der viele Elemente in sich vereint: Zum einen finden wir Teile der Biographie von Claudia Zeising, die viele Jahre in Afrika gelebt und gearbeitet hat und mit ihrer Arbeit sowohl die Emanzipation der Frauen in Tansania als auch die AIDS-Hilfe ein großes Stück vorangetrieben hat.

Im Text steckt die berührende Geschichte einer tiefen Freundschaft zweier Frauen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können und trotzdem ein festes Band der Freundschaft knüpften, das über viele Jahre hinweg hielt, auch bis über den Tod hinaus. Beide Frauen verbindet der Wunsch, das Leben für die Frauen in Tansania besser zu machen, welcher sie antreibt und dazu bringt, für sehr viele Frauen und Familien in Afrika eine große Verbesserung ihrer Lebensqualität zu erwirken.

Wir erfahren sehr viel über das Leben selbst in Afrika – die Autorin gewährt uns tiefe Einblicke in den Alltag vieler afrikanischer Frauen und Familien. Diese Geschichten sind Brückenbauer für mehr Verständnis und vor allem mehr Aufmerksamkeit für die Schicksale der Menschen in Afrika, für die wir in der westlichen, wohlhabenden Welt Verantwortung übernehmen müssen, so wie es die Autorin und ihre Freundin in vorbildlicher Weise getan haben. Ein sehr wichtiges und lehrreiches Buch gespickt mit lesenswerten und unterhaltsamen Anekdoten.
(Stefanie Messmer, Deutsche Verlagsgesellschaften)

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