Heilsame Irritation?

Vom 31. August bis 8. September 2022 tagt die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Deutschland. Das Motto der Versammlung in Karlsruhe mit rund 4000 Delegierten aus 352 Mitgliedskirchen in mehr als 120 Ländern lautet: „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt“ – ein Motto zwischen Proklamation und Provokation. Die seit langem in der Ökumene engagierte westfälische Pfarrerin Christina Biere hofft, dass das Treffen zu Irritationen des Status quo von weißer Theologie und Kirche führt – und so zu Veränderungen im Blick auf den aktuellen Umgang mit Kolonialismus und Rassismus.

Die Vorbereitungen für die ÖRK-Vollversammlung in Karlsruhe laufen auf Hochtouren. © Foto: Marcelo Schneider/WCC | Die Vorbereitungen für die ÖRK-Vollversammlung in Karlsruhe laufen auf Hochtouren.

Von der Vollversammlung des ÖRK in Karlsruhe erhoffe ich mir eine heilsame Irritation für weiße Theologie und weiße Kirche in Deutschland. Im Folgenden erkläre ich, warum ich von weißer Theologie und weißer Kirche spreche (1), beschreibe, was ich mir unter heilsamer Irritation vorstelle, die von einer ÖRK-Vollversammlung ausgeht (2), und überlege, wie die Chancen für eine solche Irritation der weißen Theologie und weißen Kirche in Karlsruhe stehen (3).

1. Weiße Theologie und weiße Kirche

Um weiße Theologie und weiße Kirche nachhaltig zu irritieren, waren in der Geschichte harte Kämpfe notwendig. Die Lebensgeschichten von Martin Luther King oder Desmond Tutu sind die mir bekanntesten. Sie haben als Theologen gegen weiße Dominanz und weiße Privilegien in ihren Kontexten Nordamerika und Südafrika gekämpft, und viele Verbündete – englisch: allies – mit ihnen. In Deutschland hat es solche Persönlichkeiten und damit solche prominenten Kämpfe bislang nicht gegeben. Aber langsam entwickelt sich in den letzten beiden Jahren in der weißen Mehrheitsgesellschaft und unter den weißen Kirchenmitgliedern eine Ahnung, welche „Spuren“ die rassistische Ideologie auch hier hinterlassen hat.

Von „Spuren“ zu reden, ist allerdings ein Euphemismus. Es sind sehr etablierte und mächtige Strukturen in Theologie und Kirche, die von Rassismus geprägt sind. Ich spreche von weißer Theologie und weißer Kirche, weil mit dem Adjektiv weiß (bewusst kursiv) eine privilegierte gesellschaftliche Positionierung im rassismuskritischen Diskurs beschrieben wird. Diese Positionierung trifft mehrheitlich auf Theologie und Kirche in Deutschland zu, nämlich überall dort, wo sie von weißen Menschen mit privilegierter gesellschaftlicher Positionierung gestaltet wird. Über diese weiße Kirche zu schreiben, ist im rassismuskritischen Diskurs eigentlich ein Paradox, denn in der antirassistischen Arbeit geht es darum, Weißsein, das immer wieder ins Zentrum gerückt wird (Robin DiAngelo), zu dezentrieren und andere Perspektiven wahrzunehmen. Ebenso muss aber, zumindest im derzeitigen Stadium des Diskurses in Deutschland, Weißsein sichtbar gemacht werden. Das Weißsein von Theologie und Kirche möchte ich in Ansätzen skizzieren:

Pfarrerin Christina Biere © Foto: privat | Pfarrerin Christina Biere

Ich bin 1979 als weiße Cis-Frau (cisgender = im Einklang mit dem zugewiesenen Geschlecht) in Deutschland geboren. Als Theologin bin ich geprägt von einer universitären Ausbildung, in der mir wie selbstverständlich beigebracht wurde, dass deutschsprachige, protestantische Theologie eine normative Rolle auch über den deutschsprachigen Bereich hinaus beansprucht. Schon allein quantitativ machte die empfohlene deutschsprachige Literatur mindestens 90 Prozent aus.

In der theologischen Bibliothek standen Bücher, die in anderen Sprachen verfasst waren, in den Regalen der Missionswissenschaft, bei den „kontextuellen Theologien“. Nicht gelernt habe ich, auch die deutschsprachige Theologie als das zu bezeichnen, was sie ist: kontextuelle Theologie. Ebenso kamen die Kapitel zu christlicher Mission und Kolonialgeschichte in meinen Studienverzeichnissen nicht vor.

Heute werden Pfarrer*innen, die für mehrere Jahre aus einer „Partnerkirche“ in meiner Landeskirche mitarbeiten, offiziell als „ökumenische Mitarbeiter*innen“ bezeichnet. Oft qualifiziert sie diese Zeit in Deutschland später für die Übernahme eines leitenden Amtes in den „Partnerkirchen“. In Kommissionen, in denen ich als Ökumenikerin mitarbeite, entscheiden Pfarrer*innen und Professor*innen aus Deutschland über Fördergelder für die theologische Ausbildung in „Partnerkirchen“. Es handelt sich hier um koloniale Kontinuitäten – sehr kurz und schematisch angedeutet. Emmanuel Kileo ist einer der wenigen Autor*innen, die über dieses Thema in größerem Umfang auf Deutsch geschrieben haben.

Zu den kolonialen Kontinuitäten gehört auch der Alltagsrassismus in deutschen Gemeinden. [Triggerwarnung: In den folgenden Sätzen wird Rassismus narrativ reproduziert.] Der im Dezember 2021 verstorbene Kölner Autor und Moderator Sami Omar ist einer der wenigen Autor*innen, die darüber bislang offen geredet und geschrieben haben. Er beschreibt, dass er sonntags in einem landeskirchlichen Gottesdienst ungefragt Hilfsangebote erhält, ihm das Gesangbuch aufzuschlagen, freundliche Blicke, wenn die Kollekte an Brot für die Welt angesagt wird oder Komplimente zu seiner deutschen Aussprache. In der Kirche werden Menschen als fremd, hilfsbedürftig oder weniger zugehörig gelesen, obwohl sie, wie Sami Omar, in Deutschland aufgewachsen sind. Auch Sarah Vecera schreibt aus BIPOC Perspektive zu diesem Thema, unter anderem auf ihrem Instagram-Account @moyo.me und in einem neuen Buch.

Es gibt meines Wissens noch keine veröffentlichten Untersuchungen zur Frage nach strukturellem Rassismus in der Kirche. Die bei der Jahrestagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus im Oktober 2021 vorgestellte Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum Zusammenhang von Religiosität und rechtsextremen politischen Haltungen ist noch nicht veröffentlicht.

Veröffentlicht wurden 2021 jedoch die Ergebnisse eines „Afrozensus“, der bislang größten Befragung unter Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen in Deutschland. Darin wird Kirche nicht explizit untersucht, aber erwähnt, dass unter den Orten, an denen Diskriminierung gemeldet oder Rat gesucht wurde, Kirchen an letzter Stelle stehen. Nur 1,8 Prozent der Befragten gaben an, sich nach einem diskriminierenden Vorfall an eine Kirche oder Glaubensgemeinschaft zu wenden. Das korrespondiert mit der Angabe, dass Kirche an zweiter Stelle derjenigen Institutionen steht, denen am wenigsten vertraut wird. Das sind sehr alarmierende indirekte Hinweise zu Rassismus in der Kirche.

In verschiedenen Veröffentlichungen beschreibt Eske Wollrad, warum der Verbleib des „M-Wortes“ in der revidierten Lutherübersetzung der Bibel von 2017 (bitte nachlesen bei Jeremia 13,23) damals wie heute als rassistisch zu verstehen ist: Die Lutherübersetzung „schreibt mit der Beibehaltung des Begriffs ‚M.‘ eine gewalttätige Tradition fort, die Menschen of Color verletzt, die Würde aller Menschen beschädigt und die biblische Botschaft verzerrt“. Trotzdem wurde der Begriff gewählt und wird bis heute beibehalten.

2. Die ÖRK Vollversammlung als Impulsgeberin

Im ÖRK und in einigen seiner Mitgliedskirchen ist der kritische Diskurs um Rassismus schon sehr viel länger etabliert und praktiziert. Zudem haben Impulse aus der ökumenischen Bewegung Bedeutendes in der jüngeren Geschichte der Kirche in Deutschland bewirkt: 1945 führten Gespräche mit Vertreter*innen des ÖRK zur Formulierung des „Stuttgarter Schuldbekenntnisses“; im Zuge des „Programms zur Bekämpfung des Rassismus“ haben sich in den 1970er-Jahren viele Basisbewegungen in Deutschland in Solidarität mit dem südafrikanischen Widerstand gebildet; die Tagung des Exekutivkomitees und des Zentralausschusses des ÖRK im August 1981 in Dresden hatte eine große Bedeutung für das Engagement der Kirche in der DDR im Friedensprozess. So verschieden diese Impulse auch waren, immer hatten sie etwas mit einer Irritation des Status quo beziehungsweise der Selbstwahrnehmung der Kirche zu tun.

Eine Vollversammlung des ÖRK kann zudem mit größerer Wahrnehmungsbreite Impulse setzen. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die nachhaltig irritierende Wirkung für die gesamte westliche Theologie, die der Beitrag der Theologin Hyun Kyung Chung auf der 7. Vollversammlung 1991 in Canberra (Australien) auslöste. Statt eines Referates präsentierte sie ihren Beitrag „Come Holy Spirit. Renew the Whole Creation“ als eine Zeremonie. Es ging Chung um eine Haltung der Demut gegenüber dem Geist der Verstorbenen, die im Sinne Christi für Befreiung aus Unterdrückung gekämpft haben: „Komm, Geist der Menschen, die während der Kreuzzüge den Tod fanden. Komm, Geist der Urvölker der Erde, die dem Völkermord in der Kolonialzeit und in der Epoche der großen christlichen Heidenmission zum Opfer fielen. Komm, Geist der Juden, die im Holocaust in den Gaskammern ermordet wurden.”

Die Antworten waren, laut dem Bericht von Hans A. Frei, begeisterter Applaus und irritiertes Schweigen. Es folgte ein Jahrzehnte währender Diskurs über die Beziehungen zwischen Theologie und Kultur. Interessant wäre es, das Weißsein dieses Diskurses zu untersuchen und die Abwehr, die darin gegenüber dem von Chung angesprochenen Rassismus im System der Kirchen und der ökumenischen Kirchengemeinschaft gelegen hat und vielleicht bis heute liegt.

Karlsruhe 2022 ist ein guter Anlass, um fortzusetzen, was Chung in Canberra vor 30 Jahren begonnen hat – der weiß dominierten Ökumene den Spiegel in Bezug auf ihre eigenen rassistischen Strukturen vorzuhalten. Wie stehen die Chancen für eine solche heilsame Irritation?

3. Chancen für eine heilsame Irritation

Für gute Chancen spricht in jedem Fall das Prinzip ÖRK. Der Ökumenische Rat steht für eine theologische Haltung, die das „Hier & Jetzt“ der Kirche in der Welt radikal und kritisch reflektiert und daraus mutige programmatische Schlüsse zieht. Viele Ökumeniker*innen sind sich des Problems eines strukturellen Rassismus in den Kirchen bewusst. Die vorbereitenden, digitalen Konferenzen – die Konferenz „Anti-Racist in Christ?“ und die Hearings „Overcoming Racism“ – haben alle Fakten zum Thema auf den Tisch gelegt. Der ÖRK bietet alle Voraussetzungen dafür, einen Prozess des Voneinander-Lernens und Wachsens im Hinblick auf weiße Privilegien und Rassismus in den Kirchen anzuregen und zu begleiten. Eine Vollversammlung bietet in vieler Hinsicht einen „safer space“ (sicherer Ort), in dem sich Menschen trauen können, aufrichtig und wahrhaftig zu sprechen.

Wie sieht es jedoch mit dem deutschen Austragungsort Karlsruhe aus? Die Stadt an sich wird das Thema weiße christliche Dominanz präsent sein lassen. Karlsruhe wurde 1715 von Karl Wilhelm von Baden-Durlach, einem absolutistischen Markgrafen, gegründet. Das für ihn gebaute Schloss steht im Zentrum und die Stadt ist wie Sonnenstrahlen um dieses Schloss herum gebaut. Das Grabmal Karl Wilhelms ist eine „Pyramide“ auf dem Marktplatz. [Triggerwarnung: rassistische Begriffe] In der Südstadt entstand in der Kolonialzeit der sogenannte „Indianerbrunnen“. Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts gab es eine Reihe großer kolonialer Veranstaltungen in Karlsruhe, Ausstellungen von „Afrikanerdörfern“ und „Hagenbecks indische Völkerschau“ waren darunter. Insbesondere die Karlsruher Munitionsfabrik, aber auch mehrere „Kolonialwarenläden“ profitierten in der Zeit des deutschen Kolonialismus. Eine Aufarbeitung der kolonialen Geschichte der Stadt wurde von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen begonnen.

Die Gemeinschaft der gastgebenden Kirchen ist eine kleine europäische Kooperation. Präsent sein wird jedoch auch ein Europa, das jährlich tausende Migrant*innen im Mittelmeer ertrinken und in diesem Winter dazu an der Grenze im Osten erfrieren lässt, sowie ein Europa, das heute in großem Umfang Privilegien in Bezug auf Impfstoffverteilung, Einreisebestimmungen und Visaverfahren verteilt.

Zudem ist immer die Frage präsent, wie kritisch eine Institution gegenüber einer großen gastgebenden Kirche sein kann, die maßgeblich zur Finanzierung der Veranstaltung beiträgt. Und auch in den so unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten der Mitgliedskirchen des ÖRK zeigen sich koloniale Kontinuitäten.

Es ist also wichtig, wer auf dieser Vollversammlung sein und reden, wer Begegnungen und Analysen beitragen und wer Atmosphäre und „safer spaces“ schaffen wird, damit weiße Theologie und weiße Kirche in Deutschland einen heilsam-irritierenden und nachhaltigen Impuls erhalten. Vielleicht ist es eine mutige Persönlichkeit, die Wahrheiten ausspricht, wie Prof. Chung damals in Canberra. Vielleicht sind es aber auch viele kleine Impulse, die viele einzelne Menschen beitragen.

Für das Workshop-Programm haben meine Kollegin Eleanor McCormick und ich die Bewerbung zu einem Workshop mit dem Titel „Examining Churches and the Assembly through the Lens of Critical Whiteness“ eingereicht – ein kleiner Beitrag vielleicht. Wir wollen versuchen, einen „safer space“ zu schaffen für die kritische Wahrnehmung von Weißsein in der Stadt Karlsruhe und an den Versammlungsorten, in den Beiträgen während der Versammlung und anhand der eigenen Erfahrungen der Teilnehmer*innen.

Die Zeit ist reif, um Rassismus als eine der Hauptursachen für die tiefen Spaltungen zwischen Menschen, Gesellschaften und Kirchen und seine tiefe Verwurzelung in christlicher Identität klar zu benennen. Damit würde die ökumenische Bewegung etwas von der Liebe Christi zeigen und ihrer Kraft, zu bewegen, zu versöhnen und die Welt zu einen.

Christina Biere

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Zur Person

Christina Biere, Pfarrerin und Pastoraltherapeutin (DGfP), war 2006 bis 2013 Delegierte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Seit 2017 arbeitet sie im Amt für Mission, Ökumene und Weltverantwortung der Evangelischen Kirche von Westfalen in Dortmund.

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