Eine Ideologie bringt Indien in Gefahr

Das ursprüngliche Versprechen der Republik Indien ist es, ein säkularer Staat zu sein, für Angehörige aller Religionen, aller ethnischen Gruppen, aller Kasten. Seit 2014 sind die Hindu-Nationalist*innen mit ihrer Partei der BJP (Bahujan Samaj Party) durchgängig an der Regierung in Indien. Sie berufen sich auf die Hindutva-Ideologie, und die steht dem ursprünglichen Versprechen der Republik Indien komplett entgegen. Im Interview erklärt Rev. Dr. Roger Gaikwad die bedrohliche Lage in Indien.

Die Hindutva-Ideologie ist auch für Christ*innen eine Bedrohung © Foto: Barshan Bhattacharjee/unsplash | Die Hindutva-Ideologie ist auch für Christ*innen eine Bedrohung

Roger Gaikwad, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, Fragen zur Hindutva-Bewegung und der aktuellen Situation in Indien zu beantworten. Wie würden Sie den Menschen in Deutschland Hindutva erklären?

Wir müssen zwischen Hindutva als einer politischen Ideologie und der religiösen Tradition des Hinduismus unterscheiden. Hinduismus ist die Religion der großen Mehrheit der Bevölkerung in Indien. Einige Befürwortende der Hindutva-Ideologie versuchen, die Gefühle von Hindus dahin gehend zu lenken, dass Indien das Land der Hindus sei, indem sie bestimmte Texte und Geschichten aus den Hindu-Schriften entsprechend interpretieren. Sie befürworten die hierarchische Kastenstruktur der Gesellschaft und den Vorrang der Sanskrit-Sprache und behaupten, der Hinduismus sei die ewige (sanatana) Religion Indiens. Gruppen, die sich dieser Vision von einem Hindu-Indien nicht anschließen, sollten daher bereit sein, sich als Bürger*innen zweiter Klasse behandeln zu lassen oder das Land zu verlassen.
Hinduismus hingegen ist eine reiche religiöse Tradition, in der es um Frieden, Toleranz, eine einzige Menschheitsfamilie und um Liebe geht. Es macht also einen Unterschied, ob wir Indien aus einer religiösen Hindu-Perspektive oder aus der der Hindutva-Ideologie betrachten.

Es heißt, dass 80 Prozent der Inder*innen Hindus seien. Ist das eine angemessene Schätzung? Wie müssen wir diese Zahl im Lichte dessen, was Sie erklärt haben, verstehen?

Die letzte Volkszählung von 2011 ergab, dass 79,8 Prozent der Bevölkerung religiös Hindus sind. Doch Hinduismus ist keine homogene Tradition, sondern unter diesem Oberbegriff werden mehrere Traditionen zusammengefasst. Um es einfach auszudrücken: Manche Hindus sind atheistisch eingestellt, andere wiederum verehren Krishna, andere Ram, wieder andere die Göttin Durga als ihre Hauptgottheit. In einer der Hindu-Traditionen gibt es zum Beispiel das Konzept des Avatar. Der Gott Vishnu soll auf die Erde herabgestiegen sein, etwa als großer Fisch, als Eber oder in Form eines Löwenmannes. Alle wurden als verschiedenen Erscheinungen des einen Gottes dargestellt. Interessanterweise sehen einige Hindus auch den Buddha als einen Avatar von Vishnu. Die Zahl sagt uns also, dass ca. 80 Prozent sich einer dieser Richtungen zurechnet.

Wer sind die Hauptvertretenden der Hindutva-Ideologie?

Um nur einige zu nennen: Die Bharatiya Janata Party (BJP) ist eine rechtsgerichtete politische Partei, die die derzeitige Regierung stellt. Auch die Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) und die Hindu Vishwa Parishad sind hinduistische nationalistische Organisationen. Ihnen allen geht es darum, die Macht im Land zu übernehmen, indem sie es mit der Ideologie der Hindutva durchdringen. Die Hindutva-Ideologie ignoriert, dass es in der Geschichte nie ein Land namens Indien gegeben hat. Früher gab es auf dem Subkontinent verschiedene Königreiche, die teils von Hindus, teils von Muslimen regiert wurden, und es gab Zeiten, in denen buddhistische Könige Teile des Subkontinents regiert haben. Die Hindutva-Ideologen argumentieren, dass die Muslime, deren Herrscher zwischen dem 10. und 16. Jahrhundert über Teile des Subkontinents herrschten, genauso wie die späteren Kolonialmächte aus Europa eine ausländische Macht waren. Darüber hinaus identifizieren sie die früheren Herrscher mit bestimmten Religionen. Die Moghule, die islamischen Herrscher, waren eben Muslime und die späteren Kolonialherrscher waren Christen. Damit wird eine Wut geschürt, wie es sein kann, dass Indien, das Land der Hindus, von Muslimen und Christen beherrscht werden konnte.

Die Flagge Indiens wird auch Tiranga genannt: Ursprünglich stand das Rot für den Hinduismus, das Grün für den Islam und das Weiß für andere Minderheitsreligionen. © Foto: Naveed Ahmed/unsplash | Die Flagge Indiens wird auch Tiranga genannt: Ursprünglich stand das Rot für den Hinduismus, das Grün für den Islam und das Weiß für andere Minderheitsreligionen.

Aus politischen und ideologischen Gründen wählen sie für ihre Zwecke bestimmte Symbole oder Gottheiten aus den hinduistischen Traditionen. Sie wählen Gott Ram und sagen, dass er den Hindus Ram Raj (die Herrschaft von Ram) über Indien bringen wird. Die Hindutva-Kräfte argumentieren, dass dazu alle die eingedrungenen nicht-hinduistischen Kräfte beseitigt werden müssen. Sie sagen: „Seht euch unsere Bildung an, sie ist vom kolonialen System beeinflusst. Seht euch unsere Kultur an. Wir haben angefangen, Rindfleisch zu essen, aber das ist nicht unsere hinduistische Kultur, wir waren Vegetarier*innen.“ Hindutva-Befürwortende versuchen, den Menschen zu beweisen, dass die Art und Weise, wie Inder*innen heute leben, essen und sich kleiden, von diesen äußeren Mächten beeinflusst wurde. Um wirklich indisch zu werden, müsse sich Indien von all diesen ausländischen Einflüssen befreien, einschließlich der fremden Religionen.

Welche Anziehungskraft hat diese Ideologie auf Menschen, die in einem Land leben, das so vielfältig ist, wie Sie erklärt haben?

Es gibt mehrere Faktoren. Die Modi-Regierung kam 2014 an die Macht, als die Menschen von der Regierung der Kongress-Partei enttäuscht waren. Modi, der bereits Ministerpräsident des Bundesstaates Gujarat war, entwickelte sich zu einer charismatischen Führungspersönlichkeit. Die Menschen glaubten, dass er den Wandel herbeiführen würde, den sie wollten.

Als die BJP dann an die Macht kam, begannen ihre Politiker*innen, alle Machtinstrumente einzusetzen, um die Menschen zu kontrollieren. Ob es die Polizei ist, die unter ihrer Kontrolle steht, ob es die so genannten Entwicklungsprojekte sind, die an große Unternehmen vergeben werden, die der Hindutva-Ideologie zustimmen. Hindutva-Vertretende haben Menschen auch gedroht: „Wenn ihr uns nicht wählt, werdet ihr mit schlimmen Konsequenzen rechnen müssen.“

Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass es keine gute, starke Oppositionspartei gibt. Außerdem hat die BJP dort, wo sie wie im Nordosten Indiens einen hohen Prozentsatz von anderen Gruppen ausgemacht hat, versucht, diese zu ködern und in ihr Bündnis einzubinden. Ob Nagaland, Meghalaya oder Mizoram, die Regierungen dieser Staaten im Nordosten Indiens sind in einem Bündnis mit der BJP. Dies alles sind Faktoren, die zum Sieg der BJP in vielen Bundesstaaten beigetragen haben.

Was bedeutet das für die indischen Christ*innen? Vor allem für den Nordosten, wo wir dieses Interview führen?

Die Hindutva-Kräfte fordern, dass keine Kuh geschlachtet und kein Rindfleisch gegessen werden darf. Im Nordosten Indiens, in den von ethnischen Gruppen dominierten Staaten, haben sie ein Zugeständnis gemacht. In Meghalaya, Nagaland und Mizoram kann man Rindfleisch essen, aber nicht in Assam. Der Ministerpräsident von Assam sagte, er wolle, dass alle 50 Kilometer ein Hindu-Tempel errichtet wird. Gleichzeitig gibt es ein Gesetz, das besagt, dass im Umkreis von fünf Kilometern um einen Tempel keine Kuh geschlachtet und kein Rindfleisch gegessen werden darf.

Wir haben neun Bundesstaaten in verschiedenen Teilen Indiens, in denen bereits so genannte Religionsfreiheitsgesetze verabschiedet wurden. Es gibt weitere Bundesstaaten, die unter dem Deckmantel des Schutzes der Religionsfreiheit ähnliche Antikonversionsgesetze vorbereiten. Abgesehen von Arunachal Pradesh haben die Hindutva-Kräfte in den nordostindischen Bundesstaaten darauf nicht gedrängt. Assam bereitet allerdings ein solches Gesetz vor. Dies ist eine der Herausforderungen, die auf die christliche Kirche zukommen.

Es gibt noch andere indirektere Möglichkeiten, das Leben der Menschen zu beeinflussen. Die Zentralregierung hat begonnen, eine neue Bildungspolitik einzuführen. Sobald diese neue Bildungspolitik in Kraft tritt, wird sie sich auf die Art und Weise auswirken, wie christliche Bildungseinrichtungen geführt werden. Die so genannte christlich-spirituelle Atmosphäre, die üblicherweise in den Schulen gepflegt wird, ist dann verboten. Die Regierung fordert auch, dass Geschichte auf eine andere Art und Weise unterrichtet werden muss. Es ist ganz offensichtlich, dass der Beitrag der christlichen Mission zur Bildung nicht gewürdigt werden soll. Es wird auch versucht, Hindutva-Ideen in den Lehrplan aufzunehmen. So wird zum Beispiel die so genannte Hindutva-Wissenschaft gefördert und nicht die Naturwissenschaft, wie sie noch gelehrt wird.

Was ist mit den Berichten über Angriffe auf christliche Gemeinden?

Christ*innen werden gezwungen, den Gott Ram (auch Rama genannt) anzubeten. © Foto: gemeinfrei | Christ*innen werden gezwungen, den Gott Ram (auch Rama genannt) anzubeten.

Seit die Modi-Regierung an die Macht gekommen ist, haben solche Vorfälle zugenommen. Im Allgemeinen sind Gemeinden, die zu großen und gut strukturierten Kirchen gehören, wie die katholische Kirche, die Kirche von Nordindien, den Baptisten oder die Kirche von Südindien, weniger von Angriffen betroffen. Die meisten dieser Vorfälle ereignen sich in den nordindischen Bundesstaaten, wo es Pastoren oder Evangelisten gibt, die in die Dörfer gehen und Gottesdienste halten. Deren Gottesdienste werden angegriffen, weil sie aus der verzerrten Sicht der BJP und der RSS Instrumente der verbotenen Bekehrung sind.

Am Gründonnerstag hatten sich z. B. Kirchengemeinden versammelt, um diesen Tag zu feiern, als die Gläubigen in einigen Kirchengebäuden eingeschlossen wurden. Draußen standen Hindutva-Kräfte und riefen Slogans im Namen Rams und behaupteten: „Diese Leute sind gekommen, um diesen Ort zu schänden.“ Es gibt andere Fälle, in denen sie sich in die Gottesdienste setzen. Wenn dann christliche Lieder gesungen werden, fangen diese Leute an, hinduistische Hymnen zu singen, um den Gottesdienst zu stören. Oft richten sie großen Schaden an, zerstören die Einrichtung und verprügeln die leitende Person des Gottesdienstes. Sie haben auch Menschen identifiziert und sie mit Fragen bedrängt und es auf Video aufgenommen. „Warum sind Sie Christ*in geworden? Wann sind Sie Christ*in geworden? Wie haben sie dich dazu verleitet, Christ*in zu werden?“ Das macht Menschen Angst und einige von ihnen wurden gezwungen zu sagen: „Ich gebe Christus auf, ich werde Ram preisen“. Sie werden gezwungen, Slogans im Namen Rams zu rufen und so weiter. Auch das Lynchen von angeblichen „Rinderfresser*innen“ durch einen angestachelten Mob ist ebenfalls ein militanter Ausdruck von Hindutva.

Beunruhigend an den Berichten, die wir hören, ist, dass die Polizei anscheinend keine Hilfe ist. Glauben Sie, dass die christliche Gemeinschaft in diesem Kampf allein dasteht? Sind Allianzen mit Muslim*innen und anderen Minderheiten, die angegriffen werden, möglich?

Tatsächlich ist die Minderheit, die am häufigsten angegriffen wird, die muslimische Gemeinschaft. Es gibt Vorfälle wie im Bundesstaat Karnataka, wo muslimischen Mädchen gesagt wird, dass sie nicht an der Universität studieren können, wenn sie den Hidschab tragen. Das hat im Bundesstaat Karnataka einen riesigen Aufruhr ausgelöst.

Die Angriffe von Hindutva-Kräften betreffen nicht nur religiöse Menschen. Menschenrechtsaktivist*innen, die die BJP-Regierung kritisieren, werden inhaftiert, weil sie angeblich anti-national sind. Es gibt Angriffe auf Journalist*innen, die versuchen, die Geschehnisse im Land aufzudecken. Es sind nicht nur Christ*innen allein, es gibt so viele verschiedene Gruppen von Menschen, die angegriffen werden.

Was glauben Sie, wird in den nächsten fünf bis zehn Jahren passieren?

Die Wahlergebnisse im Bundesstaat Uttar Pradesh haben der BJP-Regierung große Hoffnungen gemacht, dass sie die Parlamentswahlen 2024 gewinnen könnten. Das Problem ist, dass die Opposition nicht geeint ist. Wenn sich die Opposition in wichtigen Fragen zusammenschließen würde, wäre sie in der Lage, einen guten Wahlkampf zu führen. Der andere beunruhigende Aspekt ist die schweigende Mehrheit. Es gibt eine große Zahl gebildeter Hindus, die nicht mit allem einverstanden sind, was im Land geschieht. Aber sie haben Angst, dass sie, sobald sie ihre Stimme erheben, Angriffen ausgesetzt sein werden.

Die derzeitigen Machthabenden haben die sozialen Medien sehr gut genutzt, um abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen – eine Strategie, die recht erfolgreich ist. Wenn ein Tweet veröffentlicht wird, der sagt, dass die BJP etwas falsch macht, dass sie Unrecht getan hat, dann gibt es sofort 40 bis 50 Tweets, die diesen einen verurteilen.

Dennoch gibt es Gruppen, die ihre Stimme erheben.

Was wäre in Ihren Augen eine angemessene Unterstützung für die indischen Christ*innen, abgesehen vom Gebet und der Aufrechterhaltung der Beziehungen?

Rev. Dr. Roger Gaikwad war von 2010 bis 2019 Generalsekretär des Nationalen Indischen Christenrates. © Foto: Michael Biehl/EMW | Rev. Dr. Roger Gaikwad war von 2010 bis 2019 Generalsekretär des Nationalen Indischen Christenrates.

Die Regierungen anderer Länder müssen viel Druck auf die indische Regierung ausüben. Als Indien die turnusmäßige Überprüfung durch den Menschenrechtsrat durchlief, besuchten einige christliche und muslimische Vertreter*innen andere Länder und versuchten, sie davon zu überzeugen, dass sie solchen Druck ausüben sollten. Diese Länder sagten jedoch, dass sie mit Indien Geschäfte machen müssten und es daher vorziehen, sich ruhig zu verhalten. Bei der Verhandlung im Menschenrechtsrat erklärte nur ein einziges kleines Land, dass die Menschenrechtsbilanz Indiens miserabel sei. Dieses Land war Litauen. Alle Nichtregierungsorganisationen, die um Stellungnahme gebeten wurden, verurteilten in der zweiten Runde der Anhörung die indische Regierung für die Geschehnisse im Land.

Die übliche Antwort der indischen Regierung ist, dass all diese Berichte über Angriffe auf religiöse Minderheiten nur dazu dienen, das Land schlecht zu machen. Sie argumentieren, dass sie Gesetze zur Religionsfreiheit einführen müssen, um sicherzustellen, dass alle Religionen die Freiheit haben, sich zu entwickeln und zu gedeihen, damit sie nicht der Bekehrungsstrategie der Christ*innen ausgesetzt seien. Dieses Argument hatten sie auch im letzten Bericht zur Menschenrechtslage vorgebracht. Für Indien steht im kommenden Jahr erneut die periodische Überprüfung an. Der Menschenrechtsrat sollte eine Empfehlung aussprechen, dass gegen jedes Land, in dem die Menschenrechtslage nicht verbessert wird, Sanktionen verhängt werden sollten.

Die indische Regierung verschärft ihren Zugriff auf die ausländische Finanzierung von NGOs, ob es sich nun um muslimische oder christliche handelt. Die Regierungen anderer Länder sollten dieses Thema ansprechen. Beunruhigenderweise wurde gleichzeitig das Gesetz verabschiedet, dass es allen politischen Parteien freisteht, so viele ausländische Gelder wie möglich zu erhalten. Es gibt ein starkes Netzwerk von Pro-BJP-Gruppen auf der ganzen Welt, und viel Geld kommt von Inder*innen, die im Ausland leben. Die Hindutva-Kräfte sind glücklich darüber und werden gestärkt.

Auch wir müssen uns vernetzen, um der Hindutva-Ideologie entgegenzutreten, die unserem Land so schadet.

Das Interview führte Michael Biehl.


Zur Person

Rev. Dr. Roger Gaikwad ist assoziierter Presbyter der Christ Church, Guwahati in Indien. Er war von 2010 bis 2019 Generalsekretär des Nationalen Indischen Christenrates.


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