
Theologische Ausbildung
Die EMW unterstützt und begleitet im Auftrag ihrer Mitglieder ökumenisch-theologische Aus- und Fortbildung in Partnerkirchen weltweit.
Mehr ...„Mission #Decolonize bei der Norddeutschen Mission“ lautet der Titel eines Vortrags, den Heike Jakubeit Anfang April bei einer Tagung an der Missionsakademie Hamburg halten wird. Im Interview erklärt die Generalsekretärin der Norddeutschen Mission, was für sie Mission bedeutet und wie sich die Norddeutsche Mission dem Thema Kolonialismus und der Dekolonalisierung von Mission gestellt hat und weiterhin stellt.
© Foto: NM | Pastorin Heike Jakubeit ist seit 2019 Generalsekretärin der Norddeutschen Mission.
Wie kann sich Mission dekolonialisieren und was bedeutet eigentlich das Wort Dekolonialisierung?
Als Europäischer Kolonialismus wird ein Herrschaftssystem bezeichnet, in welchem europäische Staaten ihre Macht mit dem Ziel ausgebreitet haben, außereuropäische Gebiete und die dort lebenden Menschen auszubeuten. Dekolonisalisierung meint, Prozesse weiterzuverfolgen und neue zu initiieren, die dazu beitragen, dass endlich Schluss mit diesem Herrschaftsanspruch ist und seine Folgen anerkannt werden. Das ist ein hochkomplexer Vorgang, denn es geht um soziale, kulturelle und wirtschaftliche Einflüsse auf Menschen, Selbst- und Fremdbilder, Identitäten, Angst und Scham und vor allen Dingen die (Macht-)Beziehungen von Menschen zueinander: der Kolonisierenden und Kolonisierten.
Wenn wir von einer Dekolonialisierung von Mission sprechen, dann müssten wir uns darüber verständigen, was „Mission“ genau bedeutet. „Mission“ ist ein sehr vielschichtiger Begriff. Viele denken sofort an den sogenannten „Missionsbefehl“ („Geht hin und macht zu Jüngerinnen und Jünger alle Völker…“), der im Neuen Testament steht. Wer die Bibel textkritisch liest, der bleibt jedoch nicht einseitig an diesem Bibelvers hängen.
Zu bestimmen, was Mission genau beinhaltet, das sind Aushandlungsprozesse, die schon wieder von Machtansprüchen in Sachen Deutungshoheit geprägt sein können. Für mich ist Mission die Teilhabe an der „Missio Dei“. Das bedeutet, Gott hat einen guten Plan für diese Welt. In einem Bild aus der Bibel – vielleicht etwas befremdlich – veranschaulicht sieht der so aus: Alles wird neu. Frieden und Gerechtigkeit küssen sich. Ja, tatsächlich! Wie Menschen, die sich lieben und achten und etwas dafür tun wollen, dass ihre Zukunft bleibt.
Dekolonialisierung heißt, sich nicht in historischen Details der Geschichte von Missionswerken zu verlieren und trotzdem nach transparenten Kriterien Quellenkritik zu betreiben, offen für Scham zu sein, Verantwortung zu übernehmen, nicht Täter-Opfer-Beziehungen umzudrehen und gemeinsam einen neuen Weg des Umgangs zu finden: Die ehemals Missionierenden, die dem „Missionsbefehl“ folgten und die in diesem Sinn Missionierten.
Mir persönlich ist dabei wichtig, nicht erneut duale Weltbilder zu schaffen. Durch die Prinzipien Teilhabe und Partizipation könnte das gelingen. Es ist ein Zukunftsprojekt, gebaut auf Hoffnung.
Bewusst provokant formuliert: Die Kolonialzeit liegt doch weit in der Vergangenheit und Mission hat sich seither auch verändert. Warum ist es dennoch wichtig, sich heute mit diesem Thema zu beschäftigen?
Diese Welt leidet unter fortgeschriebenen kolonialen Beziehungen. Es geht darum, sie aufzulösen, damit wir gleichberechtigt auf dieser Welt leben können. Wir sehen uns globalen Herausforderungen gegenüber, die wir nur miteinander lösen können. Wenn in Diskussionen darüber, wie Lösungswege sein können, die einen aufgrund einer historischen Vor-Macht-Stellung, die sie sich zum Teil gewaltvoll angeeignet haben, meinen, sie wüssten es allein deshalb besser, kommen wir nicht weiter. Für eine Zukunftsplanung, die uns rettet, brauchen wir alle Stimmen. Wir brauchen Diversität, damit wir ganz Mensch sein können. Gott hat uns ganzheitlich geschaffen, komplementär im Miteinander. Diesen Reichtum sollten wir gemeinsam wertschätzen und feiern. Mission heißt, das Privileg zu genießen, an Gottes gutem Plan für diese Welt teilzuhaben.
Wie ist die Norddeutsche Mission (NM) das Thema Mission und Kolonialismus angegangen? Und was hat sie dazu veranlasst?
Wie bei allen anderen Missionswerken begann eine Auseinandersetzung mit dem Thema bereits in den 1960er Jahren – sicher auch im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen. Es ging um Infragestellung von Hierarchien, Autoritäten und Gehorsam. In der NM spiegelte sich das zum Beispiel in Überlegungen wider, wie Personal, das sich in Deutschland für eine Mitarbeit in den Partnerkirchen der NM in Togo und in Ghana qualifiziert hatte, in die Kirchenstrukturen dort integriert werden sollten. Damit diese Mitarbeitenden eben nicht den Status derjenigen einnehmen konnten, die „Besser-Wisser*innen“ waren und „alte“ Autorität festschrieben. Ein Ergebnis dieser Überlegungen war, von diesen Kräften nicht mehr als „Missionare und Missionarinnen“ zu sprechen, sondern sie „Ökumenisch Mitarbeitende“ zu nennen. Und diese unterstanden dann jeweils den Kirchenleitungen vor Ort. Das sagt schon einiges! Es war ein Startpunkt für Veränderung im Denken und im Handeln – angeregt von dem, was die Welt bewegt. Der Norddeutschen Mission ist es im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder gelungen, die Bedürfnisse und Anliegen von Menschen aufzunehmen. Verschiedene Stimmen zu hören. So gab es in den 1990er Jahren im Rahmen der NM-Arbeit einen Schwerpunkt auf historischer Aufarbeitung. Seit 2001 sind wir, die vier deutschen und zwei westafrikanischen Kirchen, ein gemeinsames internationales Werk von sechs Kirchen. Schwerpunkte der Zusammenarbeit sind Entwicklungszusammenarbeit, transkulturelles Lernen, Klimagerechtigkeit, Begegnung und theologischer Austausch.
Was waren und was sind die größten Herausforderungen?
Die Menschen! Wir, mit unseren Vorstellungen und Weltbildern – im Globalen Norden und Süden. Menschen sind nach dem Bild Gottes geschaffen, aber allzu gerne formen wir sie nach dem Bild, das wir uns von ihnen machen wollen.
Es mangelt uns an Empathie. Häufig genug geht es uns nicht um Gottes Willen, sondern nur um unseren eigenen. Dann erheben wir Überzeugungen und Meinungen zum Bekenntnisstand und blenden gerne aus, dass das im Lichte Christi nicht zulässig ist. Im Moment scheint mir die größte Herausforderung zu sein, wie wir mit überlieferten Texten allgemein umgehen. Die Bibel darf nicht interpretiert werden, aber die Menschenrechte schon? Darüber müssen wir ins Gespräch kommen.
Welche Veränderungen haben sich schon eingestellt und woran sind diese erkennbar?
Ich könnten denen, die ich bereits genannt habe, noch weitere hinzufügen. Die Programme und Projekte der NM werden ausnahmslos in Ghana und in Togo von den entsprechenden Abteilungen der Kirchen partizipativ in den einzelnen Gemeinschaften vor Ort entwickelt. Ein weiterer Indikator für mich ist, wie Bilder, Sprache und die Zusammensetzung von Gruppen sich ändern, ob zum Beispiel ein Team diverser wird. Der NM ist es ein Anliegen, ihre Themen in einer Sprache zu kommunizieren, die keine „Kirchensprache“ ist. Das ist ihr meines Erachtens gelungen. Apropos Themen: Wenn uns an einer ganzheitlichen Verkündigung des Evangeliums gelegen ist, einem Guten Leben für Alle, dann müssen wir den aktuellen Themen auf der Spur bleiben, vielleicht sogar Trendsetter sein. Und interessanterweise sind diese „aktuellen“ Themen häufig solche, die unsere Kernthemen sind: Gelingendes Zusammenleben in Diversität (wie in den ersten christlichen Gemeinden), Schöpfung und Geschöpfe (Klima), Ernährungssouveränität (Unser tägliches Brot gib uns heute).
Wenn ich es richtig verstehe, ist es also wichtig, eine andere Perspektive einzunehmen, um kolonialistische Denk- und Handlungsweisen hinter sich zu lassen. Wie kommt man an diese andere Perspektive? Und wie erkennen wir, wo Machtverhältnisse nicht stimmen, wer nicht repräsentiert ist und wo noch immer der „Norden“ für den „Süden“ entscheiden will?
Dass Machtverhältnisse nicht stimmen, lässt sich an verschiedenen Faktoren ablesen. Ein Zeichen dafür ist z. B. ein Ungleichverhältnis in der Frage von vorhandenen Ressourcen oder in der Frage der Repräsentanz in Gremien. Die Debatte um die gerechte Verteilung von Impfstoffen hat das wieder einmal deutlich vor Augen geführt. Die Frage nach Impfgerechtigkeit hat zudem offenbart, wie mächtig Stereotype wirken. Gegen diese Zuschreibungen müssten wir doch sagen: Selbstverständlich können auch in Afrika Impfstoffe produziert werden!
Wie gelingt uns ein Perspektivwechsel? Wenn es dafür einen einfachen Weg gebe, dann hätten wir den schon längst hinter uns gebracht. Vielleicht gibt es dafür nicht den Weg, aber Kriterien, an denen wir uns langhangeln können, quasi eine Checkliste, die wir immer wieder durchgehen, damit wir nicht in die alten Muster verfallen. Und irgendwann ist die neue Perspektive da, die wir brauchen. Ich weiß, dass die Zeit drängt. Aber, wenn ich daran denke, wie viel Zeit zum Beispiel in der Kirche vergangen ist, bis Frauen ordiniert wurden, dann brauchen wir sicher einen langen Atem und viel Geduld miteinander. Etwas zu verlernen, ist manchmal viel schwieriger, als etwas ganz neu zu lernen. Beim Perspektivwechsel, den wir brauchen, geht es um das Anerkennen von Schuld, Scham, Verletzungen und Versöhnung. Manchmal verzweifelt schon eine einzelne Menschenseele daran, damit weiterzuleben, zu überleben. Als Gemeinschaft versetzt uns das Ablegen kolonialer Denk- und Handlungsweisen in einen umfassenden Lernprozess. Für diesen brauchen wir den Austausch mit denjenigen in der Gesellschaft, die das Thema Dekolonialisierung vehement vertreten.
Veränderung ist immer auch schmerzhaft. Und auch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und, wie sie vielleicht die eigene Sicht auf Dinge beeinflusst, ist nicht gerade leicht. Was entgegnen Sie Menschen, die sich durch diesen Prozess der Dekolonialisierung in ihrem Selbstverständnis unangenehm in Frage gestellt fühlen? Wie kann man denen helfen und Dekolonialisierung dennoch „schmackhaft“ machen?
Fast zwangsläufig müssten sich durch einen Prozess der Dekolonialisierung doch alle bislang privilegierten weißen Personen in ihrem Selbstverständnis in Frage gestellt fühlen. Alle sind alle! Es geht um die Dekonstruktion eines alten Weltbildes. Alte Sicherheiten gelten nicht mehr. Das mag Ängste auslösen. Auf jeden Fall Verunsicherung – wie bei jeder Veränderung. Privilegien abgeben, das fällt schwer. Ich muss verstehen, was ich gewinne, wenn ich mich verändere.
In diesem Prozess halte ich nichts von einer „Beschämungspädagogik“. Ich würde gern an die positiven Grundhaltungen von Menschen anknüpfen: Liebe, Solidarität. Die haben wohl auch diejenigen, die sich durch einen Prozess der Dekolonialisierung unangenehm in Frage gestellt sehen. Konkret könnten wir zum Beispiel über den White-Savior-Komplex (weiße Menschen aus dem Globalen Norden fühlen sich dazu berufen, in Ländern des Globalen Südens Entwicklungs-, Aufklärungs- oder Hilfsarbeit zu leisten) sprechen. Dass nicht alles gut ist, was gut gemeint ist, leuchtet wohl den meisten ein.
Es geht um eine Einladung zu einem neuen Leben, damit Gerechtigkeit und Frieden sich küssen können. Nur gemeinsam kann die Menschheit diese Welt retten. „Wenn du schnell gehen willst, geh allein. Wenn du weit gehen willst, nimm viele mit.“, heißt es in einem Sprichwort aus Afrika.
Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft: Wie sieht für Sie Mission von morgen aus? Und welche Rolle spielt dabei Mission #Decolonize?
Mission von morgen? An der Missio Dei, von der ich gesprochen habe, ändert sich nichts. Vielmehr müssen wir uns immer mehr verändern, damit wir ihr gerecht werden. Möglicherweise öffnen sich damit neue Handlungsfelder. Eines unserer neueren Projekte ist zum Beispiel die Unterstützung einer Gruppe alleinerziehender westafrikanischer Frauen in Bremen, die zu Köchinnen ausgebildet werden. Wer weiß, was sich daraus ergibt. Niemand kann in die Zukunft schauen.
Wir dürfen uns in unserer Zukunftsentwicklung nicht allein auf das stützen, was und wie hier in Deutschland diskutiert wird, auch wenn das für einen Teil des Kontextes entscheidend ist, in dem wir zuhause sind. Als Missionswerk sind wir aber auch in Ghana und in Togo beheimatet. Wie wird Dekolonialisierung dort diskutiert? Sicher auch in vielen Facetten. All diese Diskussionsstränge zusammen zu hören und daraus dann Handlungsanleitungen für uns – im Sinne der Missio Dei – zu finden, wird unsere Zukunft bestimmen. Vielleicht gehört das zu unserem Alleinstellungsmerkmal als Missionswerk.
Aus der Diskussion in Deutschland nehme ich im Moment konkret den Auftrag mit, sich Gedanken dazu zu machen, ob der Begriff „Entwicklung“ nicht schon ein neo-kolonialer sei. Mission #Decolonize wird uns dabei unterstützen, multiperspektivisch nicht weiß zu denken.
Das Interview führte Corinna Waltz.
Die Tagung „Kolonialismus und Mission revisited“ will die aktuelle Diskussion um die Rolle der Missionen während der Kolonialzeit aufgreifen und einen Dialog ermöglichen zwischen Vertreter*innen deutschsprachiger Missionswerke, Partnerkirchen aus dem Globalen Süden und Fachhistoriker*innen. Ziel ist es, die Ergebnisse der jüngsten Kolonialgeschichtsschreibung auf die Diskurse innerhalb der Missionswerke und ihrer Partnerkirchen zu beziehen.
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