Der Wille, die Welt zu verändern

Seit 127 Jahren treffen sich junge Menschen, um zusammen zu beten, sich fortzubilden und die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Im Juni kam die World Student Christian Federation (WSCF) in Berlin zur Vollversammlung zusammen. Über 100 junge Menschen aus der ganzen Welt tauschten sich über die Herausforderungen in ihren individuellen Kontexten aus und machten Pläne für die Zukunft. Dr. Geevarghese Mor Coorilos ist seit dem Sommer 2021 Vorsitzender des Weltverbandes und erzählt im Interview von seinen Erfahrungen.

Die World Student Christian Federation gibt es seit 1895. Auf der Vollversammlung wurde auch das 127-jährige Jubiläum gefeiert. © Foto: WSCF | Die World Student Christian Federation gibt es seit 1895. Auf der Vollversammlung wurde auch das 127-jährige Jubiläum gefeiert.

Was ist das Besondere an der World Student Christian Federation? Was macht sie so einzigartig?

Seit 127 Jahren begleitet die World Student Christian Federation (WSCF) junge Menschen in ihrer spirituellen und theologischen Bildung. Aber die WSCF tut viel mehr. Sie beeinflusst auch die persönliche Entwicklung von jungen Menschen.

Schon als WSCF 1895 gegründet wurde, hatte sie eine Mission. Es stellte sich heraus, dass sie eine innovative Organisation war, die den Weg auch für die ökumenische Bewegung geebnet hat, wie wir sie heute kennen. Als progressive Organisation ist WSCF immer noch die größte studentische christliche Organisation in der ganzen Welt. Bis heute ist WSCF eine einflussreiche Größe. Das macht sie zu einer einzigartigen Organisation, die immer noch die moralische Ausdauer hat, das ökumenische Publikum herauszufordern.

Die Vision der WSCF und die eindeutige Mission und eine ganz einzigartige Hingabe der jungen Menschen machten die WSCF so besonders.

Und wann begann Ihre persönliche Reise mit der WSCF?

Ich selbst war auch Mitglied einer Studierendengemeinde. Meine Reise begann, als ich ein Theologiestudent war. In den 1980ern war ich Student am United Theological College in Bangalore. Dort kam ich in Berührung mit der indischen Studierendengemeinde. Und seitdem war ich immer in Kontakt mit der Studierendengemeinde auf verschiedenen Ebenen. So war ich auch einige Zeit lang Vorsitzender. Es war eine wunderbare, unterhaltsame und herausfordernde Reise.

Seit dem letzten Sommer sind Sie Vorsitzender der WSCF. Wie unterscheidet sich das zu Ihren Erfahrungen aus der Studierendengemeinde?

Die Erfahrung ist eine andere und ich habe es bisher stets genossen. Besonders diese Vollversammlung in Berlin war eine großartige Erfahrung.

In Indien leben wir auch in einer großen religiösen und kulturellen Verschiedenheit. Jeden Tag sind wir dieser Pluralität ausgesetzt und das ist Teil unserer Kultur. Diese große Vielfalt sowohl in der Studierendengemeinde als auch in Indien sehe ich als Segen, nicht als Bedrohung. In Berlin kam aber die internationale Ebene dazu, die meine bisherigen Erfahrungen und Werte in einer diversen Gesellschaft bestätigt hat.

Wenn Sie an die Vorbereitungen der Vollversammlung denken, was waren die größten Herausforderungen?

Ich kann es immer noch kaum glauben, dass alles so gut gelaufen ist. Eine Veranstaltung dieser Größe braucht normalerweise mindestens zwei Jahre Vorbereitung. Dass wir in etwas über einem halben Jahr alles geplant haben, stellt einen Rekord dar. Diese kurze Vorbereitungszeit resultierte aus der unklaren Pandemielage. Die Versammlung war für 2020 geplant, wurde dann verschoben. 2021 wurde die Versammlung auch wieder verschoben und stattdessen schon ein Teil online veranstaltet. Die Entscheidung, für Juni 2022 zu planen, konnte erst Ende letzten Jahres getroffen werden.

Die Pandemie machte es nicht nur schwierig abzuschätzen, ob eine solche internationale Großveranstaltung überhaupt stattfinden konnte. Auch die Vorbereitungen wurden erschwert, sodass sich der Exekutivausschuss nicht treffen konnte, genauso wenig wie der Vorstand oder das Komitee, das die Versammlung geplant hat. Die meisten Treffen mussten also online stattfinden.

Ich denke, es grenzt an ein Wunder, dass wir eine so erfolgreiche Vollversammlung hinter uns gebracht haben. Es gab große Herausforderungen. Aber ich denke, dass die Tatsache, dass jede*r aufrichtig und engagiert dazu beigetragen hat, wie auch immer er*sie konnte, es möglich gemacht hat.

Geevarghese Mor Coorilos ist Vorsitzender der World Student Christian Federation. © Foto: WSCF | Geevarghese Mor Coorilos ist Vorsitzender der World Student Christian Federation.

Was war für Sie besonders an der Vollversammlung?

Ich denke, dass der Geist der Einigkeit, der Versöhnung und des Konsenses, den wir auf der Vollversammlung erlebt haben, etwas ganz Besonderes ist.

Es gibt einige Themen, die dafür prädestiniert sind, in der internationalen Ökumene komplex diskutiert zu werden. Das ist nicht nur bei uns der Fall. So hatten wir auch dieses Mal die Befürchtung, dass diese angespannte Situation die Vollversammlung dominieren würde. So gab es bereits im Vorfeld der Vollversammlungen kritische Auseinandersetzungen zu einigen dieser Themen. Und dennoch konnten wir eine gemeinsame Sprache finden und Konsens – sogar in den international-ökumenisch strittigen Fragen.

So siegten am letzten Tag, nach intensiven Diskussionen und einer beinahe ausweglos scheinenden Situation, die geteilten Werte, die Versöhnung und die Einigkeit und die Wolken des Misstrauens wurden vertrieben. Auf der letzten Vollversammlung war die Atmosphäre ganz anders. Die Stimmung war sehr komplex und entzweiend, sodass die Vollversammlung damit endete, dass es eine Spaltung innerhalb der Gemeinschaft gab, anstelle einer Einigung.

Ich bin stolz, dass wir gemeinsam so starke Statements geschrieben haben über wichtige Themen wie den Klimawandel, Gender- und LGBTQIA*-Themen, den Krieg in der Ukraine und die kritische Menschenrechtssituation in vielen Teilen der Welt. Diese Statements stärken sowohl das Ethos als auch die Reputation der Organisation.

Dann kann man sagen, dass die Vollversammlung ein Meilenstein in der Geschichte der WSCF ist?

Absolut! Verglichen mit vergangenen Vollversammlungen der WSCF und auch anderer Organisationen ist die Tatsache, dass wir auch in kritischen Momenten und zu kritischen Themen einen gemeinsamen Geist, eine geteilte Sprache und einen Konsens finden konnten, ist beeindruckend und ein großer Schritt für mich als Vorsitzender und auch in der langen Geschichte der Organisation.

Die kritischen Themen sind nicht nur in unserer Organisation kontrovers diskutiert worden, sondern auch von anderen ökumenischen Organisationen und auch innerhalb einiger Kirchen. Dass wir hier Einigkeit erzielen konnten, ist ein Segen. Wir bleiben also weiterhin eine progressive Organisation.

Was befördert Ihrer Ansicht nach diese besondere Form des Dialogs?

Dass die Diskussionen so anders waren als in anderen Organisationen, kann verschiedene Gründe haben. Zunächst sicher das Alter der Teilnehmenden, die jünger, offener und ohne feste, versteckte Eigeninteressen kommen. Das macht es einfacher, einander zu verstehen und erstmal zuzuhören.

Außerdem bringt die Energie der jungen Leute eine einzigartige Stimmung mit sich.

Drittens ist es auch die Organisation, die als solche einzigartig ist. Viele andere ökumenische Organisationen sind im Laufe der Zeit von ihrer ursprünglichen Vision und Motivation abgewichen und haben sich in gewisser Weise selbst betrogen. Es gibt an vielen Orten eine Art moralischen Bankrott, also den Verlust einer Vision, von guter Führung, einer prophetischen Weltsicht und einer neuen Perspektive. Und genau dort setzt WSCF an und fordert die Kirchen heraus, zurück zu ihren eigentlichen Werten und Visionen zu gelangen und wieder eine prophetische Stimme in der Welt zu werden.

In Berlin wurde wieder deutlich, dass die Organisation mit ihrer prophetischen und empathischen Stimme eine transformierende Kraft in dieser Welt hat.

Wird die WSCF also auch in der Zukunft eine große Rolle in der ökumenischen Bewegung spielen?

Davon bin ich fest überzeugt. Das war die ursprüngliche Vision, als die Organisation gegründet wurde, und das ist auch heute noch unsere große Herausforderung. Gerade heute, wenn die ökumenische Bewegung und viele Kirchen inmitten einer moralischen Krise sind und nicht genau wissen, wie sie den heutigen Problemen und Herausforderungen gegenübertreten sollen.

In Berlin haben wir wieder einmal gezeigt, was schon immer der Kern der WSCF war. Dadurch, dass wir uns das wieder ins Bewusstsein gerufen haben, gehen wir nun gestärkt weiter.

Die World Student Christian Federation tagte in der Zwinglikirche in Berlin. © Foto: WSCF | Die World Student Christian Federation tagte in der Zwinglikirche in Berlin.

Wie genau geht es denn nun weiter? Was sind die nächsten Schritte der WSCF?

Der Exekutivausschuss wird sich nun mit dem Vorstand und dem weiteren Team treffen und evaluieren, wie die Vollversammlung verlaufen ist und die nächsten Schritte planen. Aus der Vollversammlung haben wir gelernt, dass wir ehrlich und offen in die neuen Richtungen gehen müssen.

Es gibt einige sehr konkrete Beschlüsse, sodass Tagungen zu den Themen des Klimawandels, der Geschlechtergerechtigkeit und der LGBTQIA*-Themen sowie der Menschenrechte stattfinden sollen. Auch die Themen Faschismus, Fundamentalismus und Extremismus sind nochmal ganz neu ins Rampenlicht gerückt worden. Auf jeden Fall wird es weiter in eine prophetische, moderne und engagierte Richtung gehen.

Und ich hoffe, dass die Welt das Zeichen wahrnimmt, dass über 100 junge Menschen aus der ganzen Welt nach Berlin gekommen sind. Trotz der Pandemie, den Reisebeschränkungen und anderer Widrigkeiten. Und dass diese Menschen alle Unterschiede überwinden konnten, weil die Hoffnung auf eine bessere Welt und der Wille, die Welt zu verändern, groß genug waren.

Das Interview führte Christiane Ehrengruber.


Zur Person

Dr. Geevarghese Mor Coorilos promovierte 1995 in Theologie und Ethik an der Universität von Kent in Canterbury (Großbritannien). Er war Vorsitzender der Kommission für Weltmission und Evangelisation (CWME) des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Außerdem war er Miglied der Arbeitsgruppe für Mission und Proselytismus in dem Global Christian Forum (GCF). Er ist Metropolit der Diözese Niranam der syrisch-orthodoxen Malankara-Jakobiten-Kirche in Indien.

Als prophetische Stimme in Kirche und Gesellschaft ist er dafür bekannt, die Kirche den Armen und Unterdrückten näher zu bringen. Er ist davon überzeugt, dass Jugendliche und Studierende die Macht haben, einen echten sozialen Wandel herbeizuführen, und dass WSCF vor allem in junge Führungskräfte investieren muss, die prophetisch progressiv und sozial engagiert sind.

Unsere Themen

Erfahren Sie mehr über die Themen und Schwerpunkte der Evangelischen Mission Weltweit.

Der EMW-Newsletter

Abonnieren Sie unseren Newsletter, um immer informiert zu sein.