Frieden schaffen ohne Waffen?

Am 21. September 1981 riefen die Vereinten Nationen (UN) den Internationalen Tag des Friedens ins Leben. In Deutschland entstand nur wenige Monate später im Januar 1982 ein Appell, der die (christliche) Friedensbewegung für viele Jahre prägen sollte: „Frieden schaffen ohne Waffen“. Angesichts verschiedener weltweiter Konfliktherde und dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine scheint es heute jedoch schwierig, an diesem Appell festzuhalten. Oder doch nicht? Im Interview berichtet der „Friedenstheologe“ Fernando Enns davon, was ihm die Bergpredigt besonders im Hinblick auf die weltweiten Konflikte bedeutet und welche Handlungsnotwendigkeit er für sich daraus ableitet.

Gegen Gewalt mahnt auch die Bronze-Skulptur Non-Violence vor der UN in New York. © Foto: Maria Lysenko/unsplash | Gegen Gewalt mahnt auch die Bronze-Skulptur Non-Violence vor der UN in New York.

Viele Glaubenssätze der (christlichen) Friedensbewegung in den 70er, 80er und bis in die 90er Jahre hinein drehten sich um Gewaltlosigkeit und hatten die Bergpredigt zur Grundlage. Nun ist schon seit etwa 1,5 Jahren Krieg in Europa. Angesichts dessen scheinen viele der damaligen Aktionen der Friedensbewegung – überspitzt formuliert – nur eine fromme Übung gewesen zu sein. Und viele dieser Glaubenssätze scheinen keine Gültigkeit mehr zu haben. Kann man sagen, dass die Bergpredigt nur für schönes Wetter gilt?

Da frage ich zurück, war denn das Engagement der Friedensbewegung in der damaligen Zeit nur für Friedenszeiten gemeint? Und – waren es denn tatsächlich Friedenszeiten? Es war immerhin die Zeit des sogenannten „Kalten Kriegs“, der in Deutschland, den Luxus hatten wir, zu einem eingefrorenen Konflikt geführt hat. Aber in den meisten anderen Teilen der Welt wurde er durchaus als ein heißer Konflikt geführt. Wir sprechen immer so selbstverständlich von einem „Kalten Krieg“. Ich finde das gefährlich, weil es doch eine sehr eingeschränkte, eurozentristische Sicht auf den Konflikt ist. Wenn man Lateinamerika, Asien oder Afrika vor Augen hat, ging es in sehr vielen Teilen der Welt genau um diese Konkurrenz zwischen einem kommunistischen Ostblock und einem kapitalistischen Westblock. Das großartige Geschenk, das wir dann bekommen haben – theologisch würde ich sagen die erfahrene Gnade Gottes – war ein Friedensschluss und die Auflösung einer Konfrontation durch Menschen wie Gorbatschow, durch die gewaltfreie Revolution in der DDR und durch so viele gewaltfreie zivile Bewegungen in Litauen, Polen und vielen anderen osteuropäischen Nachbarländern. Denn die Sicherheit im „Kalten Krieg“ war höchst fragil und allein auf der Hoffnung aufgebaut, dass eine Abschreckung die Feinde davon abhalten möge, den ersten Schritt zu tun, weil die Folgeschritte vollständig klar waren. Das als Sicherheit zu bezeichnen, halte ich für verwegen. Sicherheit kann es nur geben, wenn man sich mit den anderen versteht, sich verständigt, Verträge schließt, Vertrauen aufbaut, Beziehungen entwickelt, weil nur das letztlich verlässlich sein kann.

Gleichzeitig müssen wir aber sehen: Wir hatten diese Verträge und Putin hat sich konkret nicht an diese Verträge gehalten. Der Krieg ist da. Wir müssen uns dazu jetzt irgendwie verhalten. Und wie wir uns verhalten sollten, ist plötzlich gar nicht mehr so klar und einfach zu sagen. Beispielsweise bei dem Satz „Frieden schaffen ohne Waffen“, einen Satz, den ich selbst Jahrzehnte lang aus vollem Herzen verteidigt habe, bin ich mir jetzt gar nicht mehr sicher, ob der wirklich so richtig ist. Und so wie mir geht es anderen Leuten jeden Alters auch.

Prof. Dr. Fernando Enns ist Leiter der Arbeitsstelle Theologie der Friedenskirchen am Fachbereich Ev. Theologie der Universität Hamburg. © Foto: privat | Prof. Dr. Fernando Enns ist Leiter der Arbeitsstelle Theologie der Friedenskirchen am Fachbereich Ev. Theologie der Universität Hamburg.

Ja, ganz klar. Dieser Angriffskrieg, den die russische Regierung gegen die Menschen in der Ukraine gestartet hat, ist tatsächlich ein Völkerrechtsbruch und es ist auch ganz klar, dass dieser mutwillige Versuch einer Grenzverschiebung, der Einnahme eines Territoriums, das einem anderen Volk gehört, auch ethisch nicht zu legitimieren ist, darüber sind wir uns vollständig einig. Wir haben es also mit einer militärischen Aggression zu tun und die schwierige Frage, mit der wir jetzt konfrontiert sind, ist, wie geht man mit diesem Bösen um. Jetzt komme ich auf die Frage von vorhin zurück: Ist die Bergpredigt nur eine Predigt für Schönwetter-Situationen, so dass wir sie, wenn es dann hart auf hart kommt, und das tut es in jedem Krieg, zur Seite legen müssen? Ich persönlich kann mir das nicht vorstellen. Denn man müsste dann sagen, Jesus hat eben eine Schönwetter-Predigt gehalten und hat den Menschen irgendwas vorgemacht, wie es wohl wäre, wenn Frieden ist. Aber wenn Krieg kommt, sollen sie doch bitte zu den Waffen greifen. Wollen wir nicht doch eher den Jesus, der sich am Schluss selbst ans Kreuz nageln lässt, der schon geahnt hat, dass sein Weg kein leichter werden wird, der notfalls sein Leben geben würde, anstatt in die Kriegslogik oder Gegengewalt einzusteigen, anstatt zu sagen, dass wir, auch wenn wir es nicht wollen, eben manchmal gezwungen sind, genauso zu denken wie unsere Feinde und mindestens genauso starke, oder besser, noch etwas stärkere Waffen zu benutzen? Denn wir meinen dann, es sei sogar Christenmenschen möglich, andere Menschen umzubringen, um wiederum andere Menschenleben zu schützen. Das folgt einer Logik, die einige Menschenleben höher bewertet als andere. Das heißt in Kriegszeiten wird das Denken sehr stark verengt auf Dualismen. Es gibt nur noch Freund*in und Feind*in, es gibt nur noch falsch und richtig, es gibt nur noch töten oder getötet werden. Die christliche Botschaft, der Gott, an den wir glauben, ist sozusagen der Einspruch schlechthin gegen dieses polarisierte Denken.

Was Jesus in der Bergpredigt macht, ist im Grunde genommen genau das Entlarven eines solchen Denkens, das zum Tode führt. Und dieses Denken unterbricht er mit seinem Leben, mit seiner Bergpredigt, mit seinen Worten, in denen er nicht etwa die jüdischen Gebete aufhebt oder relativiert, sondern sagt, ich bin gekommen, das zu erfüllen und zu zeigen, das die eigentliche Intention nicht nur ist, deine Nächsten, oder deine bedrohten Nachbar*innen zu lieben, sondern dass die Feindesliebe dazu kommt – zusätzlich zu dem radikalisierten Tötungsverbot. Wenn man meint, man könnte das in Kriegszeiten zur Seite schieben, dann soll man das machen. Aber mir erschließt sich nicht, dass ich so mit dem biblischen Zeugnis umgehen dürfte und mich quasi darüber erhebe und sage: „Lieber Jesus, manchmal ist deine Ethik eben doch geprägt von einer Schönwetter-Theologie. Das funktioniert leider nicht so in einer Welt, in der wir leben. Wenn es hart auf hart kommt, folgen wir lieber unserer eigenen Logik, die wir uns von den Feind*innen aufdrücken lassen, in die wir uns verfangen lassen, anstatt uns tatsächlich gerade in den Situationen, in denen es am meisten darauf ankommt, uns auf dein Wort und auf deine Logik zu verlassen.“

Jetzt werden aber nicht wir in Deutschland angegriffen, sondern ein anderes Volk, das sich mit der Bitte um Waffen an uns wendet. Darf ich denn für andere Menschen diese Entscheidung treffen, ob sie jetzt töten dürfen oder nicht?

Diese Entscheidung dürfen wir niemandem abnehmen, das würde bedeuten, dass wir den christlichen Glauben oder die christliche Friedensethik zu einer Ideologie machen, die wir anderen Menschen aufzwingen. Man kann niemandem empfehlen, Märtyrer*in zu werden, das kann man nur für sich selbst entscheiden. Was wiederum für die konkrete Situation, in der wir jetzt stehen, heißt, dass wir sehr klar unterscheiden müssen, wer ist hier direkt bedroht. Was entscheiden die Menschen, die unter der direkten Bedrohung leiden und verzweifelt sind und was ist unsere Situation. Unsere Frage ist nicht „Dürfen wir oder dürfen wir nicht töten“, sondern „Dürfen wir beim Töten helfen“. Das ist noch einmal was anderes. Damit sage ich nicht: „Du Ukrainer*in lass dich notfalls töten, aber greife ja nicht zur Waffe“. Das müssen die Ukrainer*innen schon für sich selbst entscheiden. Ich muss meine eigene Verantwortung dabei erkennen und tragen.

Aber eines muss allen politisch vernünftigen Menschen klar sein: Eine Sicherheit in Europa werden wir nur mit Russland und nicht gegen Russland erlangen können. Das heißt, man wird früher oder später am Tisch sitzen und miteinander verhandeln und sich auf irgendwas verständigen. Man wird hoffentlich auch über Kriegsverbrechen sprechen und sie aufdecken müssen, wenn man nicht nur einen Waffenstillstand oder einen eingefrorenen Konflikt haben will, sondern Versöhnung. Denn versöhnte Menschen sind meines Erachtens die größte Sicherheit, die wir uns vorstellen können, für eine gewaltfreie Austragung von Konflikten. Denn unsere Welt wird niemals völlig konfliktfrei sein.

Das Interview führte Freddy Dutz. Es ist ein Auszug aus dem EMW-Podcast „Zeit für Mission“.

Hören Sie das gesamte Gespräch im EMW-Podcast „Zeit für Mission“.

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