Theologische Ausbildung
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Mehr ...Eigentlich möchte die Kirche alle Menschen ansprechen. Aber das ist leichter gesagt, als getan. Die Kirche muss sich verändern. Aus diesem Grund hat die Nordkirche das Referat Interkulturelle Kirchenentwicklung ins Leben gerufen. Nicolas Moumouni ist seit einem Jahr Referent für Interkulturelle Kirchenentwicklung in der Nordkirche. Im Interview berichtet er, was hinter dem Schlagwort steckt und warum die Kirche dringend eine interkulturelle Entwicklung braucht.
© Foto: Ricardo Santanna/unsplash | Die Kirche muss Wege finden, unterschiedliche Menschen anzusprechen.
Nicolas Moumouni, Sie sind Referent für Interkulturelle Kirchenentwicklung. Darunter können sich vielleicht nicht alle etwas vorstellen. Also was ist interkulturelle Kirchenentwicklung überhaupt?
Das Referat gibt es seit 2023 und es ist das Ergebnis eines über Jahre angesetzten Prozesses innerhalb der Nordkirche zum Thema interkulturelle Öffnung. Das heißt, verschiedene kirchliche Akteur*innen haben sich über einen gewissen Zeitraum getroffen und haben sich gemeinsam Gedanken gemacht, wie eine Kirche der Zukunft vor dem Hintergrund der Migration aussehen bzw. wie Kirche mit der daraus resultierenden Vielfalt umgehen kann. Dieser Prozess hat zu verschiedenen Empfehlungen geführt, die in einem Gesamtkonzept festgehalten wurden, das von der Kirchenleitung im Januar 2022 verabschiedet wurde. So viel zum Entstehungsprozess des Referats Interkulturelle Kirchenentwicklung.
Inzwischen reden wir aber, um einen gewissen Paternalismus oder Einseitigkeit zu vermeiden, nicht mehr von Öffnung wie zu Anfang des Prozesses. Denn zu Recht könnte man sich fragen, wer öffnet sich wem gegenüber? Wer passt sich wem an? Entwicklung dagegen ist ein Begriff, der einen Schritt nach vorne von allen Beteiligten impliziert und ergebnisoffen ist. So können wir verschiedene Bereiche der Kirche und der Dienste und Werke betrachten und überlegen, wie wir die gesellschaftliche Vielfalt, die wir migrationsbedingt bereits haben, in die Strukturen dieser Organisationen hineinbekommen.
Meine Aufgabe besteht u. a. darin, etwa anhand von verschiedenen Instrumenten und Zahlen zu prüfen, wie interkulturell vielfältig die Kirche in ihren eigenen Strukturen und Gremien schon ist, und dann mit einigen Expert*innen zu überlegen, was passieren soll, damit sie interkulturell vielfältig wird, um die heutige Gesellschaft tatsächlich abzubilden. Es geht also bei interkultureller Kirchenentwicklung darum, die bereits bestehende vielfältige Gesellschaft in unseren kirchlichen Strukturen sichtbar werden zu lassen. Dabei kann es zum Beispiel um unterschiedliche Frömmigkeitsstile und Religiosität gehen, um die Zusammensetzung von Belegschaften oder auch um Ausschlussmechanismen. Es kann aber auch eine Betrachtung sein, wie bestehende Machtstrukturen bei der Nutzung von kirchlichen Räumen wirken. Kirche hat als Organisation viel Macht und Ressourcen, auch wenn aktuell ihr Ansehen in der Gesellschaft und die Zahl ihrer Mitglieder schwinden. Die Frage, die sich für mich daraus ergibt, ist, wie Kirche diese Macht im Hinblick auf die zunehmenden gesellschaftlichen Herausforderungen nutzen kann. Schließen diese Machtstrukturen eventuell gewisse Menschen aus oder nutzt Kirche diese Macht, indem sie sich an die Seite der marginalisierten und der von Diskriminierung betroffenen Menschen stellt, wie es uns Jesus Christus selbst vorgemacht hat?
Warum brauchen wir interkulturelle Kirchenentwicklung? Gibt es Schwerpunktthemen, die sich hierbei besonders anbieten oder die besonders wichtig sind?
© Foto: Tanja Stünckel/EMW | Nicolas Moumouni
Wir brauchen vor dem Hintergrund der oben genannten Herausforderungen für Kirche auf jeden Fall interkulturelle Kirchenentwicklung. Wir als Kirche haben den Anspruch, eine Kirche für alle zu sein. Wir wollen aktiv niemanden per se ausschließen. Aber die Kirchengeschichte ist zum Teil eine sehr belastete Geschichte. Und zwar einmal durch die Verflechtung der Kirche mit der Sklaverei. Es ist beispielsweise bekannt, dass einige Pastor*innen damals Sklavenschiffe gesegnet haben. Wie gehen wir damit heute um? Oder auch hinzuschauen, wo wir uns als Kirchen im Prozess des Kolonialismus schuldig gemacht haben – das sind Aufgaben, denen sich die Kirchen stellen müssen, unabhängig vom gesellschaftlichen Druck. Kirche möchte die breite Gesellschaft ansprechen, aber auf einmal sind auch Menschen da, die Nachkommen ehemaliger kolonisierter Völker oder Nachfahren von ehemalig versklavten Menschen sind. Um diesen Konflikt aufzulösen und glaubwürdig in die breite Gesellschaft zu wirken, muss sich die Kirche ihrer Geschichte stellen und sich vielleicht sogar neu erfinden. Der Kolonialismus hat Spuren bis in die Kirchengebäude hinterlassen. Teilweise wird er in ihnen sogar verherrlicht. Ich denke dabei zum Beispiel an den Hamburger Michel. Wie will Kirche einen Umgang mit Ehrentafeln für Kolonialsoldaten in eigenen Räumen finden? Das sind gesellschaftlich sehr brisante Fragen, bei denen sich Kirche sowohl positionieren als auch mitwirken und aufarbeiten muss.
Ein weiterer Aspekt ist, dass wir statistisch auf dem Gebiet der Nordkirche Zuwanderung nicht nur in der ersten, sondern auch der zweiten oder sogar der dritten Generation haben. Die Menschen mit Zuwanderungsgeschichte gehen in unsere Kitas, besuchen unsere Schulen und diakonische Werke – sie leben mit uns und teilen den Sozialraum mit uns. Gleichzeitig erleben diese Menschen, dass die Kirche diakonisch zwar sehr viel anbietet, aber sie als Glaubensgemeinschaft ansonsten kaum anspricht oder mitgestalten lässt. Und dann müssen wir uns als Kirche fragen, was der eigene Anspruch ist. Wollen wir eine Kirche für alle sein, oder ein exklusiver Kreis von Gläubigen bleiben?
Der dritte, vielleicht momentan akuteste Grund ist die sinkende Kirchenmitgliederzahl. Da muss sich Kirche überlegen, ob sie denn tatsächlich schon alle gesellschaftlichen Schichten anspricht. Wir brauchen uns nur internationale Gemeinden anzuschauen, um festzustellen, dass Religiosität nicht abhandengekommen ist. Aber die Art, wie in der evangelisch-lutherischen Landeskirche Spiritualität gelebt wird, spricht die Menschen vielleicht nicht mehr an. Daher müssen wir kreativere Lösungen finden, auf Menschen zugehen, zuhören und möglicherweise deren Nachkommen auch die Möglichkeit bieten, Pastor*innen in der Nordkirche zu werden und leitende Funktionen und Ämter zu übernehmen.
Das sind nur einige der Gründe, warum interkulturelle Kirchenentwicklung akuter denn je ist. Ich wage sogar zu behaupten, dass sich die Zukunft der Kirche an dieser Frage entscheiden wird. Warum? Weil Kirche beispielsweise noch keinen Umgang mit Rassismus hat, und das führt dazu, dass wir unbewusst rassistische Strukturen reproduzieren oder aufrechterhalten. Dadurch sprechen wir unbewusst bestimmte Menschen gar nicht an. Wenn wir aber einen guten Umgang mit Rassismus haben, wenn wir in unserer Ansprache alle Menschen erreichen, dann kann es sein, dass wir vielleicht, ohne missionarisch zu wirken, beiläufig für neue Zielgruppen attraktiver werden. Wir sind eine der größten Arbeitgeberinnen bundesweit. Aber wir können Menschen nicht anstellen, ohne dass wir Anlaufstellen und Vertrauenspersonen haben, an die sich diese Menschen wenden können, falls sie rassistische Übergriffe in unseren Reihen erleben. Daher brauchen wir unbedingt interkulturelle Kirchenentwicklung, die dazu beiträgt, auf organisationaler Ebene solche Strukturen zu schaffen.
Wie kann auf Gemeindeebene ein rassismusfreies Miteinander entstehen? Sie haben eben gesagt, „Wir müssen mit Rassismus gut umgehen“. Was wären denn da Ansätze? Wie kann man mit Rassismus gut umgehen?
Der Begriff Rassismus pointiert ein Problem, das an sich aber vielschichtiger ist. Wenn ich mir die Gemeindeentwicklung anschaue, sehe ich, dass an vielen Orten die Mitgliederzahlen sinken. Die Kirche verliert an Attraktivität und Relevanz. Die Kirche muss sich daher also mit der eigenen Rolle beschäftigen, die sie zukünftig einnehmen will. Einzelne Gemeinden auf dem Gebiet der Nordkirche haben sich bereits entschlossen, neue Wege zu gehen. Diese werden auch von unserem Referat begleitet und beraten. Wir betrachten solche Gemeinden als „Experimentierräume“. Denn sie öffnen ihre Türen und Räume für Menschen aus internationalen Gemeinden oder anderen Zielgruppen, die Spiritualität vielleicht anders leben. Sie holen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in die Kirchengemeinderäte oder stellen Arbeitskräfte mit Zuwanderungsgeschichte ungeachtet von deren religiöser Prägung ein. Andere wiederum bieten verschiedene Themenabende und bringen so Kirchenmitglieder und Bewohner*innen im Stadtteil zusammen. In diesen Begegnungen erleben wir tatsächlich zweierlei: Es gibt Gemeinden, in denen werden durch diese Begegnungen der Austausch gefördert und langfristig Vorurteile abgebaut. Aber es gibt auch Gemeinden, wo Vorurteile durch vermeintliche Verhaltensweisen der anderen eher noch verstärkt werden. Wir erleben also allerlei Vorurteile in solchen Settings und da agieren wir als Referat als vermittelnd, indem wir anregen, dass Gemeinden, die sich auf ein solches Experiment miteinander einlassen wollen, im Vorfeld miteinander reden, um die Regeln gemeinsam zu definieren. Interessanterweise klingt allein so ein Hinweis für einige ordinierte Pastor*innen wie ein Affront. Nach dem Motto: „Warum soll ich denn mit dem nicht evangelisch-lutherischen Pastor über die Hausordnung reden …“ Aber wenn wir gemeinsam neue Wege gehen wollen, dann ist das gemeinsame Reden über verschiedene Möglichkeiten vonnöten und da unterstützen wir gerne.
Was wir aktuell viel anbieten, sind Fortbildungsformate. Wir schulen beispielsweise Pastor*innen, Mitarbeitende aus den Diensten und Werken sowie Seelsorgende, damit diese verstehen, wie vielschichtig Rassismus sein kann und im Alltag wirkt. Eine Person, die Rassismus und Diskriminierung erfahren hat, sollte durch eine rassismussensible Seelsorge Halt und Heilung finden. Die ersehnte Transformation der Strukturen kann nur durch Menschen erfolgen, die diese Strukturen in ihrer jeweiligen Position bisher aufrechterhalten. Eine rassismuskritische Kirche soll unser gemeinsamer Anspruch sein, wenn wir eine Kirchenentwicklung in einer Zuwanderungsgesellschaft anstreben.
Das Interview führte Tanja Stünckel.
Wir leben in einer Zeit, in der zu Recht vieles in der Kirche auf den Prüfstand gestellt wird. Nicht alle Konzepte der Vergangenheit bieten Antworten und Lösungen auf heutige Fragen und Herausforderungen. Wie sollte also eine Kirche für heute und morgen aussehen? Das haben wir junge Menschen unter 30 gefragt.
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