Aus dem Versteck hinein in die Liebe Christi
In vielen Regionen der christlichen Welt verheimlichen Menschen ihre sexuelle Orientierung, sofern sie nicht der heterosexuellen Norm entspricht. Denn sie müssen Repressalien und Ausgrenzungen in ihren Gemeinden, Kirchen und manchmal sogar Heimatländern fürchten. Doch dies soll nicht länger so bleiben. Christ*innen der sexuellen Vielfalt beanspruchen offen ihre Identität im Volk Gottes. Einer von ihnen ist Theologieprofessor Enrique Vega-Dávila. Im Gespräch mit der EMW berichtet er davon.
Seit einiger Zeit werden die Stimmen der Menschen sexueller Vielfalt immer lauter, die die Liebe Christi ohne Vorbehalte für sich beanspruchen und die Integration auch in bestehende Glaubensgemeinschaften und die traditionellen Kirchen fordern. Dabei kann von außen der Eindruck entstehen, dies sei ein vergleichbar neues Thema. Wie stellt sich die Situation aus Ihrer Sicht dar?
© Foto: privat | Enrique Vega-Dávila ist Theologieprofessor mit dem Schwerpunkt Dogmatische Theologie
Schon immer hat es Menschen wie uns in sexueller Vielfalt in verschiedenen christlichen Gemeinschaften gegeben. Doch wir waren gezwungen, ein Doppelleben zu führen und einen Teil unserer Identität zu verbergen. Weil wir sind, wie wir sind. Nur wenige Konfessionen haben uns ihre Türen geöffnet, ohne unsere Identität zu verletzen. Für uns war das Evangelium nicht immer eine gute Nachricht, denn es gab oft nur die Alternative: Entweder wir leben unsere affektivsexuelle Orientierung aus oder wir finden Raum in der Gemeinschaft. Ein Coming-Out bedeutete oft Ausgrenzung, und sozialer und religiöser Druck hielt uns lange davon zurück.
Nicht überall auf der Welt erleben Menschen sexueller Vielfalt die gleiche Intensität an Ausgrenzung und Druck. Auf welche Region beziehen Sie sich?
Ich lebe in Peru und eine Ausgrenzung wird in ausgeprägter Form mehrheitlich in den größten Kirchen Lateinamerikas vollzogen. Natürlich können wir Teil der Glaubensgemeinschaften sein, aber wir können dort (aus unserem Glauben heraus) nicht offen unsere Sexualität leben.
Wie zeigt sich das?
Dies zeigt sich in erster Linie darin, dass man nicht dieselben Bürgerrechte wie heterosexuelle Personen hat. In Ländern wie Peru, Paraguay oder Venezuela gibt es nach wie vor keine klaren Gesetze für Menschen der sexuellen Vielfalt.
Und wie äußert sich das im persönlichen Erleben im kirchlichen Umfeld?
Viele von uns mit verschiedener sexueller Prägung sind in Räumen des Glaubens aufgewachsen, in denen uns die Geschichten von Sodom und Gomorra (1. Mose 19) oder vom „Mann, der mit einem Mann liegt“ (3. Mose 18,26) vorgehalten wurden. Die Texte wurden auch für die Ablehnung von säkularen Initiativen genutzt, die entweder die Ehe für Alle oder den Stolz auf die Vielfalt forderten. Der religiöse Diskurs lautete „Gott schuf Mann und Frau“, „Gott vergibt Sünden, aber keinen Skandal“. Geheimhaltung war immer die implizit angebotene Möglichkeit, Sexualität zu leben, die nicht zur heterosexuellen Form passt.
Wenn Sie sagen, Geheimhaltung war ein implizites Angebot nicht heterosexuelle Formen der Sexualität zu leben, wie müssen wir uns das vorstellen?
Die religiöse Welt schuf ein „heiliges Versteck“, das Sicherheit, Komfort oder sozialen und kirchlichen Aufstieg garantierte. Als katholischer Theologe hatte ich oft Angst, dass ich durch die Entdeckung meiner Sexualität ausgeschlossen würde. Die Leute schätzten mich für die Vorträge, die ich gehalten habe, aber ich konnte mich nie mit dieser Besonderheit präsentieren, die Teil meines Lebens ist. Liebe und auch erlebte Ernüchterung mussten im Verborgenen oder mit einer kleinen Gruppe gelebt werden. Dies gilt nicht nur für Katholik*innen, sondern auch für diejenigen, die in evangelischen Familien aufgewachsen sind und von klein auf hörten, dass gleichgeschlechtliche Zuneigung zu verurteilen sei. Kontrolle und Schuld sind zwei Machtmechanismen, die eingesetzt wurden, um Institutionen aufrechtzuerhalten. Viele Leben wurden geopfert, um jene Konstrukte aufrechtzuerhalten, die sich nicht nur direkt auf den Körper beziehen, sondern auch auf die Schaffung von Kultur.
Sie beschreiben ein „heiliges Versteck“, das die religiöse Welt geschaffen habe. Wer versteckt sich darin oder wird darin unsichtbar gemacht?
Sich im „Schrank“ zu befinden ist ein Ausdruck der bedeutet, heimlich seine sexuelle Orientierung oder Geschlechteridentität zu leben. Wenn ich vom „heiligen Schrank“ bzw. Versteck spreche, versuche ich zu beschreiben, wie eine bestimmte religiöse Welt unsere Beiträge in den Religionsgemeinschaften bewertet. Man will, dass wir nicht unsere sexuelle Orientierung oder Geschlechteridentität nach außen hin sichtbar machen.
Was ist der Auslöser, dass sich Menschen der sexuellen Vielfalt durch diese Umstände nicht länger begrenzen oder unter Druck setzen lassen wollen?
Menschen der sexuellen Vielfalt glauben, dass die Liebe Christi uns bewegt hat und immer noch bewegt, aus diesen entfremdenden Strukturen auszubrechen, um unsere Identität innerhalb des Volkes Gottes wiederzuerlangen. Es gibt keine Versöhnung oder Einheit, wenn wir uns inmitten einer Vielfalt, die vom Ostergeheimnis durchdrungen ist, nicht anerkennen.
Dieses Wiedererlangen ist aber ein Prozess, der die betroffenen Menschen ganz persönlich betrifft. Welchen Herausforderungen mussten und müssen nicht heterosexuelle Christ*innen sich dabei stellen?
Für viele, die für die sexuelle Vielfalt kämpfen, bedeutete es, die sexuelle Erfahrung mit dem Glauben in Einklang zu bringen, und dies hieß, ein Selbstwertgefühl zu entwickeln, das seit vielen Jahren angeschlagen war. Man sagte uns, dass wir in den Gemeinden geliebt und akzeptiert würden, aber gleichzeitig wurde unsere Form der Zuneigung abgelehnt. Man betrachtete uns mit Abscheu, gab uns das Gefühl, im Dreck zu leben. Sich anders zu fühlen und das ausdrücken zu wollen, bedeutete Schuldgefühle, Angst und Ablehnung und nicht notwendigerweise Angst vor Gott und vor den Menschen, die behaupten, seine Anhänger zu sein. Ablehnung und Beleidigung erlebten wir auch im außerkirchlichen Raum. Dies hat jedoch zu keinem Zeitpunkt vermocht, unsere göttliche Abstammung zu zerstören. Wir bekennen uns in Gemeinschaft zum christlichen Glauben, ohne unsere Sexualität zu verleugnen.
Wie ist es Ihnen gelungen, ein Selbstwertgefühl zu entwickeln, um sexuelle Vielfalt mit dem Glauben zu vereinbaren? Wie begegnen Sie Menschen, die Ihnen dies absprechen?
Dieser Prozess war einer der kompliziertesten. Denn es ist nicht so leicht zu erkennen, dass diejenigen Institutionen, die uns Liebe predigten, an uns Unrecht verüben. Ich persönlich habe es nach einer Therapie geschafft, die Dinge für mich klarer zu sehen. Ich lade Personen sexueller Vielfalt zu diesem Prozess ein, uns ernsthaft danach zu fragen, inwiefern die Religion uns schadet. Den Leuten, die Menschen sexueller Vielfalt nicht akzeptieren, begegne ich mit Selbstverständlichkeit, ohne meine sexuelle Orientierung zu verheimlichen. Ich verteidige mein Recht, meinen Glauben als derjenige zu leben, der ich bin.
Ist Ihnen in der Kirche nur Ablehnung begegnet oder gibt es auch andere Erfahrungen? Offene und inklusive Gemeinden?
Ich glaube, während ich im „heiligen Schrank“ saß, habe ich keine ausdrückliche Ablehnung gespürt. Aber ich habe immer unter den Vorgaben der Heterosexualität gelitten, die mir befahlen, weniger weiblich zu sein, weniger zart und mit rauer Stimme zu sprechen. Innerhalb der katholischen Kirche habe ich Nähe erlebt, insbesondere von Frauen. Meistens hat sich dies durch Gesten der Akzeptanz ausgedrückt, aber nicht durch eine offene Bejahung der sexuellen Vielfalt. Leider hat der Mangel an alternativen Diskursen innerhalb der Kirche zu der Vorstellung geführt, dass die Kirche homo-lesbo-bi-trans-phobisch sei, während es in Wirklichkeit in vielen Denominationen andere Haltungen und Öffnungen gibt. Etwa die Inklusive Christlich-Ökumenische Gemeinschaft El Camino (der Weg) ist ein nicht-katholischer Freiraum für diverse Menschen. Hier blieb ich sieben Jahre. Zurzeit unterstütze ich die Gründung der Lutherischen Gemeinschaft Santísimo Redentor (Heiliger Erlöser) in Mexiko-Stadt und in der Lutherischen Gemeinde von Peru. Es handelt sich um Freiräume, die durch den Feminismus bereichert werden und offen sind für die Vielfalt.
Warum ist das Anerkennen von sexueller Vielfalt, Ihrer Ansicht nach, für viele Menschen und Gemeinden so schwierig?
An die sexuelle Vielfalt zu glauben, ist nicht einfach, da es für viele Menschen im Widerspruch zum Glauben steht.
Oft wird die Bibel herangezogen, um Homosexualität und andere sexuelle Orientierungen abzulehnen. Wie legen Sie die Heilige Schrift aus?
Es ist interessant zu sehen, wie ein für bestimmte christliche Kreise so zentrales Thema wie Homosexualität auf so wenige Schriftstellen reduziert wird. Viele christliche Gruppen gehen sehr willkürlich mit der Schrift um, wenn sie sich auf Sexualität beziehen. Die Existenz der entsprechenden Stellen ist nicht zu leugnen. Wir müssen sie vielmehr kennen, studieren und in ihrem Kontext verstehen. Dabei lernen wir nicht nur vom Studium der Lebenssituation derjenigen, die die Passagen verfasst haben, sondern auch von dekolonialen Lesarten, von einer Hermeneutik des Verdachts, die christlich-feministische Frauen oder die Gemeinschaften afrikanischer Abstammung nutzen. Mit ihnen lesen wir die Heilige Schrift von der Kehrseite der heterosexuellen Geschichte, die uns unsichtbar gemacht hat. Unser Ansatz ist von der Überzeugung getragen, dass wir zum Volk Gottes gehören, aber davon ausgeschlossen werden.
Wie können wir uns das konkret vorstellen? Welche Herausforderungen gibt es?
Durch meine Ausbildung zum Theologen habe ich von historisch-kritischen Strömungen gelernt, die Heilige Schrift zu interpretieren. Wir haben selber die sogenannten „toxischen“ Texte der Bibel, jene Passagen, die Homosexualität verurteilen, interpretiert. Dies hat uns dazu veranlasst, von den originalen Sprachen ausgehend, die Bedeutung der Worte in ihrem eigenen Kontext zu hinterfragen und auf welche Realitäten sie sich bezogen haben. Darüber hinaus haben wir gelernt, die angewandten Übersetzungen dahingehend zu hinterfragen, inwiefern sie sich an der Mentalität und den Vorurteilen (der Übersetzer) orientieren und nicht notwendigerweise am Geist des Textes. Die Herausforderung, die wir als Gemeinschaften der sexuellen Vielfalt erkennen, ist nicht, Homosexualität biblisch zu rechtfertigen (dieses Wort gibt es in der Bibel zunächst einmal nicht). Unser Bestreben ist es, uns für eine viel breitere Dimension der Sexualität und Liebe zu öffnen, die auf vielfältige Weise zum Ausdruck kommt. Unsere Lektüre führt uns nicht nur zur Verteidigung unserer Menschenrechte, die von einer cis-heteropatriarchalen Gesellschaft abgelehnt werden, sondern auch zu unserer göttlichen Abstammung, in Solidarität mit anderen Gruppen, die zu Opfern gemacht werden. Mir ist wichtig, den Menschen der sexuellen Vielfalt die Frohe Botschaft der Heiligen Schrift zu vermitteln.
Gibt es noch weitere Gründe, warum Menschen die Anerkennung von sexueller Vielfalt ablehnen? Und wie könnte man diesem Problem begegnen?
Die Ablehnung der sexuellen Vielfalt der Menschen beruht nicht nur auf einer wörtlichen Auslegung der Schrift, sondern vor allem auf einem anthropologischen Reduktionismus, der die gesamte Menschheit nur von den Genitalien her und daher als Subjekt der Fortpflanzung versteht. Das Geheimnis der Inkarnation hilft uns, in eine Beziehungsdynamik einzutreten, in der das Menschliche dem Göttlichen nicht widerspricht; im Gegenteil, die Menschheit wird der Weg zum Göttlichen sein; die göttliche Kenosis bedeutet für uns, dass alles Menschliche geweiht ist, auch unsere vielfältige Sexualität. Indem wir den Menschen nur auf den Zeugungsakt und die binäre sexuelle Erfahrung reduzieren, verzichten wir auf die Wertschätzung der Liebe aus anderen Perspektiven.
Sie beklagen einen anthropologischen Reduktionismus. Wie würden Sie Ihr Menschenbild beschreiben?
Es erscheint mir wichtig, auf der Kohärenz einer ganzheitlichen Anthropologie zu bestehen, die die Sexualität nicht an den Rand der Reflexion drückt. Ich denke, dass die christliche Botschaft nur allgemein über Sexualität spricht, aber noch nicht in der Lage ist, diese zu feiern. Unsere Liturgien leben weder von Sexualität noch von Lust. Ich glaube, dass sich dieser Reduktionismus auf allen Ebenen fortsetzt. In diesem Sinne halte ich es für grundlegend, die Menschheit als vielfältig anzuerkennen und dies zu begrüßen.
Wie zeigt sich für Sie Christi Liebe? Und zu was bewegt sie die Welt bzw. sollte sie Ihrer Meinung nach die Welt bewegen?
Die Liebe Christi ist eine persönliche Liebe. Die Menschen machen die Erfahrung eines Gegenübers, mit dem man in den Dialog tritt und sich auseinandersetzt. Aus dieser Perspektive heraus zeigt sich die Liebe Christi in der Erfahrung, dass die vielfältigen Identitäten von ihm als wertvoll angenommen und geliebt werden. Die Liebe Christi sollte uns erkennen lassen, wie immer das Leben entsteht, es das letzte Wort hat. In diesem Sinne ist es eine Forderung, den Schaden zu beheben, den die Glaubensgemeinschaften im Namen Gottes gegenüber den verletzlichen Bevölkerungsgruppen verübt haben.
Was müsste passieren, damit sich in der Kirche etwas verändert? Auf welche Veränderung hoffen Sie?
Ich denke, zu allererst müssten die Kirchen anerkennen, dass sie sich in Bezug auf unsere Leben getäuscht haben. Dass ihre expliziten und impliziten Lehren viele Lebensentwürfe zerstört haben. Daraufhin müssten die Kirchen um Verzeihung bitten, für all die verbotenen Küsse, für die Liebe, die wir verheimlichen mussten. Ich weiß, dass das eine Illusion ist, aber ich fühle, dass es eine historische Schuld gegenüber den Personen der Geschlechter-Vielfalt gibt. Auch die Überprüfung unseres Verständnisses von Göttlichkeit und Menschlichkeit eröffnet neue Horizonte für versöhnende Glaubenspraktiken – und lässt uns aus allen Verstecken heraustreten, ohne Gott in ihnen zu lassen. Deshalb ist es gut, von einer „Lehrkirche“, die lehren und verkünden will, zu einer „Jünger*innen-Kirche“ überzugehen, die ihre Ohren an den Lippen des Meisters hat, der in allen Wesen schreit, die nach Gerechtigkeit schreien.
Warum bietet der Wandel hin zu einer Kirche der Jünger*innen für Sie so große Chancen?
Weil sie den zuhörenden Charakter, den das Evangelium propagiert, anerkennt. Die Kirche als Lehrende zu betrachten hat ihr eine Rolle zugewiesen, die sie vergessen gemacht hat, dem Meister zuzuhören; umso mehr, als er auch in den Menschen präsent ist, die sich nicht im religiösen Umfeld aufhalten. Kirche muss mehr Schülerin sein, das bedeutet, auch von den sozialen Bewegungen zu lernen, von ihren Kämpfen und Erfahrungen und ihren Methoden, Kontakte zu knüpfen.
Das Interview führten Tanja Stünckel und Corinna Waltz für das EMW-Themenheft 2021.
Zur Person
Enrique Vega-Dávila ist Theologieprofessor mit dem Schwerpunkt Dogmatische Theologie an der Päpstlichen und Zivilen Theologischen Fakultät von Lima. Zurzeit promoviert er an der Iberoamerikanischen Universität von Mexiko über kritische Genderstudien. Er war Professor für Theologie an verschiedenen Universitäten in Peru und ist Mitglied der Ökumenischen Vereinigung von Theologen und Theologinnen der Dritten Welt sowie der Studiengruppe zu Religion und Politik. Außerdem ist er Pfarrer der Christlichen Ökumenischen und Inklusiven Gemeinde El Camino (Der Weg) in Lima/Peru. Seine akademisch-pastoralen Interessenschwerpunkte liegen auf Theologie, Jugend und sexueller Vielfalt aus Perspektive der Genderstudien.