Christus bewegt ... welche Welt?
Wenn 2022 die Delegierten und übrigen Teilnehmenden aus den Mitgliedskirchen nach Karlsruhe kommen, sind neben dem Programm der Vollversammlung selbst viele Veranstaltungen um dieses ökumenische Event herum geplant, auf denen die unterschiedlichsten Themen bearbeitet werden sollen. Ausgehend von der grenzüberschreitenden Region im Südwesten Deutschlands stellt sich die Frage, auf welche Felder in Deutschland oder Europa fokussiert werden sollte, in denen Christi bewegende Liebe aufgezeigt und in die sie hinein verkündet werden soll. Welches sind die Bereiche, in denen die „Welt“ für Deutschland kontextualisiert werden sollte? Ein Beitrag aus dem EMW-Jahresbericht 2019/2020.
Gegenwärtig ist es die Covid-19-Pandemie, die die Welt fast zum Stillstand gebracht hat, die die Menschheit gefährdet und Vieles in ein neues Licht rückt. Ein Aspekt dieser Situation ist, dass die Verbreitungswege und das Wirken des Virus die existierenden Bruchlinien, Asymmetrien und Ungerechtigkeiten der globalisierten Welt deutlich erkennbarer machen. Vor diesem Hintergrund wird die Pandemie mitunter als eine Chance für Lernprozesse und ein Umsteuern dargestellt, die nicht immer direkt etwas mit der Pandemie zu tun haben. Bis 2022 wird das Leben aller Voraussicht nach nicht zum Zustand vor der Pandemie zurückkehren. Es ist eine Herausforderung, dass dafür Dimensionen des Lebens berücksichtigt werden, auf die wir mittelbar oder unmittelbar durch Corona in den letzten Monaten aufmerksam geworden sind.
© Foto: Marcelo Schneider/WCC | Die Globalität der Pandemie: Covid 19-Warnhinweis am Eingang zu einem Markt in Porto Alegre, Brasilien.
Deutschland, das benachbarte Frankreich und die Schweiz sind säkularisierte Gesellschaften, die gleichzeitig multireligiös und multikulturell sind, wie das Bewerbungsvideo für Karlsruhe veranschaulicht. Nicht nur die Pandemie zeigt, wie religiöse Gewissheiten verblasst sind und die Rolle der Kirchen sich verändert hat. Ein notwendiger Teil missionstheologischer Reflexionen ist, wie die Proklamation, dass Christi Liebe die Welt bewege, Menschen in einem solchen Kontext verständlich gemacht werden kann. Ist es eine fruchtbare Provokation, die zur Auseinandersetzung einlädt? Oder werden säkulare und andersreligiöse Menschen ein „nur“ vor Christi Liebe mitschwingen hören? Das Thema könnte von ihnen aber auch so gehört werden, als ob die Kirchen behaupten wollten, dass „wahre“ Versöhnung und Einheit nur von Christus herkomme. Wie verhält sich also die Ansage, dass Christi Liebe die Welt bewege, zu säkularem und zivilgesellschaftlichem Engagement, das die Welt ebenfalls zu Gerechtigkeit, Frieden, Versöhnung und zu Einheit bewegen will?
In einem gemeinsamen Studienpapier haben Vertreter*innen europäischer Missionsräte, zu denen das EMW gehört, auf der Weltmissionskonferenz in Arusha einige Überlegungen zu Mission in säkularisierten Kontexten vorgelegt. Wenn es eine ökumenische Überzeugung ist, dass Gottes Geist die Welt bewegt und in ihren Kulturen und Religionen wirkt, wie die Missionserklärung „Gemeinsam für das Leben“ festhält, dann wirkt der Geist auch innerhalb der säkularen westlichen Gesellschaften.
Missionarische Verkündigung und auch der interreligiöse Dialog sollten sich der säkularen Kultur nicht entgegenstemmen, denn die Glieder der Kirchen sind Teil dieser Kultur. Es ist im Blick auf die Berufung der Kirchen in solchen Kontexten zu unterscheiden, wie und wo der Geist im Sinne der Liebe Christi und der Fülle des Lebens wirkt. Missionarische Verkündigung muss die Konturen der von Gott in Christus geschenkten Versöhnung erkennbar machen, die bereits vom Geist geschaffen worden sind, und gleichzeitig lebensverneinende Kräfte benennen, die Versöhnung und Einheit behindern.
Mit Blick auf Aktivitäten des EMW und seiner Mitglieder werden hier drei Bereiche vorgestellt, in denen sie sich an missionarischen Aktivitäten und missionstheologischen Reflexionen beteiligen, die in der Perspektive des Themas in die Diskussionen auf der Vollversammlung eingebracht werden könnten.
„Erdung statt Verhimmelung“ (s. Literaturliste, Herrschaftsmandat als Herrschaftskritik)
Trinitätstheologisch eröffnet die Liebe Christi öko-theologische Ansätze, die in den letzten Jahren die nichtmenschliche Schöpfung in den Blick nahmen und die Mitgeschöpflichkeit von Pflanzen und Tieren mitbedachten. Den eingeforderten Perspektivwechsel hat Jürgen Moltmann so auf der vom EMW mitorganisierten Tagung „Grüne Reformation“ (2017) formuliert: „Nicht uns ist die Erde anvertraut, sondern wir sind der Erde anvertraut.“ (s. Literaturliste: Die ökologische Wende in der christlichen Theologie)
In apokalyptisch-eschatologischen Passagen des Neuen Testamentes werden der Kosmos oder die Schöpfung als Welt angesprochen, eine Tendenz, die in der Briefliteratur stärker zum Tragen kommt. So heißt es im Kolosserbrief 1, 15ff.: Christus „ist Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen. Er ist vor aller Schöpfung und in ihm hat alles Bestand.“ Die trinitätstheologischen Aussagen, die die vielfaltigen biblischen Aussagen systematisieren, sprechen davon, dass die Werke der Personen der Trinität nach außen ungetrennt und austauschbar sind. Gottvater wird Mensch im Gottsohn, und seine Liebe ist die, die Christus treibet. Christus, der Sohn, ist wesenseins mit Gott dem Schöpfer und dem Heiligen Geist und ist damit Schöpfer und Erhalter der von Gott geschaffenen Welt. Die Missionserklärung sagt dazu: „Wir glauben an den dreieinigen Gott, den Schöpfer, Erlöser und Bewahrer allen Lebens.“ „Mission beginnt im Herzen des dreieinigen Gottes. Die Liebe, die die Personen der heiligen Dreieinigkeit zusammenhält, durchströmt die gesamte Menschheit und Schöpfung.“ (Gemeinsam für das Leben, 1.2)
Der entscheidende Punkt ist, dass mit einem solchen Ansatz sowohl eine Begrenzung von Welt und von Erlösung auf die Menschen vermieden wird, als auch, dass es der ethische Auftrag von Christinnen und Christen sei, die Schöpfung zu bewahren. Hier hat ein Umdenken begonnen, dass die Menschen der Erde anvertraut sind.
Das EMW hat sich 2019 mit der Vereinten Evangelischen Mission, der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Ökumenischen Rat der Kirchen an der Organisation und Durchführung der Konferenz „Together towards Eco-Theologies, Ethics of Sustainability and Eco-Friendly Churches“ beteiligt, auf der der Aufruf „Kairos für die Schöpfung – Hoffnungsbekenntnis für die Erde“ formuliert wurde. (s. Literaturliste, Kairos for Creation) Sich von der Liebe Christi gehalten wissend, konnten die Beteiligten den Aufruf mit einem Sündenbekenntnis beginnen. Entlang dem Schema der sieben Todsünden werden Haltungen der Kirchen identifiziert, die zerstörerisch waren und sind, und von denen die Kirchen sich abwenden sollen.
© Foto: Eugenio Hansen OFS/ CC BY-SA 4.0 | Die Gier. Ein Bodenmosaik in Porto Alegre, Brasilien, entdeckt von dem Franziskaner Eugenio Hansen.
Davon seien hier die Sünde des Hochmutes benannt, dass die Erde den Menschen untertan sei, und die Sünde der Gier, wie sie sich im Streben nach immer mehr Wachstum und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen niederschlägt. Dagegen ruft die Wuppertaler Erklärung zu einer ökologischen Transformation auf, in deren Herzen „die Notwendigkeit einer ökologischen Umkehr/Konversion (metanoia)“ steht. Sie hat „Auswirkungen auf alle Aspekte des Christlichen Lebens: auf Liturgie und Anbetung, auf das Lesen der Bibel, auf die Verkündigung und auf die Sakramente, auf die Gemeinden und ihr Glaubensleben, auf Beten, Fasten, Spiritualität, Doktrin, Ethos, Bildung, Kunst, Musik, Ämter und missionarische Projekte. In dieser ökologischen Reformation des gesamten Christentums wurden und werden wir von unseren Vätern und Müttern im christlichen Glauben, durch Beispiele von unseren Glaubensgeschwistern weltweit und von Kirchenleitenden aus der gesamten Ökumene, wie beispielsweise dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus, von Papst Franziskus und vom ehemaligen Erzbischof Desmond Tutu und vielen weiteren ermutigt.“ (s. Literaturliste, Kairos für die Schöpfung)
Werke und Kirchen in Deutschland haben die ökologische Wende hoch auf ihre Tagesordnungen gesetzt und sie unterstützen wenn auch kritisch die Sustainable Development Goals. Voraussichtlich wird Karlsruhe 2022 eine Station auf dem ökumenischen Pilgerweg sein, auf dem die Kirchen darüber beraten, ob die Bewältigungsversuche der Pandemie dem Ökosystem mehr als eine Atempause verschafft haben.
Christus und die Religionen
Für einen multireligiösen Kontext ist es eine Herausforderung, wie das Verhältnis von der Verkündigung des Evangeliums als Einladung zum Glauben sich zum interreligiösen Dialog verhält. Die Missionserklärung „Gemeinsam für das Leben“ hat als Teil der Mission bestimmt, die Spuren des Geistes in anderen Kulturen und Religionen zu entziffern. (s. Literaturliste, „Gemeinsam für das Leben“) Damit steht sie in einer langen Reihe von missionstheologischen Reflexionen, die den vermeintlichen Gegensatz von Einladung zum Glauben (Nachfolge als Evangelisation) und Dialog transzendieren.
Auf der Weltmissionskonferenz in San Antonio 1986 wurde die berühmt gewordene und wirkmächtige Formulierung gefunden: „Wir kennen keinen anderen Weg zum Heil als Jesus Christus; zugleich können wir dem Heilswirken Gottes keine Grenzen setzen.“ (s. Literaturliste, Dein Wille geschehe) Eine vergleichbare Formulierung findet sich in der Erklärung „Gemeinsam für das Leben“ von 2013, wobei dort das Ziel der Evangelisation als „die Erlösung der Welt und die Ehre des Dreieinigen Gottes“ bestimmt wird. (§ 80) Im „Christlichen Zeugnis in einer multireligiösen Welt“ (2011) wird festgehalten, dass Evangelisation und Dialog zusammengehören, indem Christ*innen Zeugnis von der Hoffnung geben, die in ihnen ist (Grundlagen, 4). „Christliches Zeugnis in einer pluralistischen Welt umfasst auch den Dialog mit Menschen, die anderen Religionen und Kulturen angehören.“ (Grundlagen 4.) Das Zeugnis von der Liebe Christi muss in Respekt, in Liebe zu allen Menschen und unter Achtung ihrer Würde geschehen. Das Zeugnis führt dazu, „mit allen Menschen in gegenseitigem Respekt zusammenzuarbeiten und mit ihnen gemeinsam Gerechtigkeit, Frieden und Gemeinwohl voranzutreiben. Interreligiöse Zusammenarbeit ist eine wesentliche Dimension einer solchen Verpflichtung.“ (Prinzipien 8.)
Die Liebe Christi treibt hier dazu, die Welt gemeinsam mit anderen zu ändern und in dieser Kooperation von der Liebe Christi motiviert Zeugnis zu geben vom lebendigen Gott. Mit diesem Dokument, das bekanntlich von Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften unterzeichnet wurde, die gut zwei Drittel der weltweiten Christenheit vereinen, weist das Thema der Liebe Christi, die die Welt bewegt und Versöhnung bringt, weit über die Gemeinschaft des ÖRK hinaus. Der ÖRK wie die anderen Kirchen und Verbünde verstehen das Dokument als Ausdruck ihrer Einheit im Zeugnis und ihres Wirkens für Versöhnung zwischen den Religionsgemeinschaften und in der Welt. (zum Dialog im Kontext der Ökumenischen Bewegung s. Literaturliste, Geschichte des interreligiösen Dialogs)
© Foto: Albin Hillert/WCC | Abschlussplenum der Weltmissionskonferenz in Arusha/Tansania am 13. März 2018. Im dort beschlossenen „Aufruf zur Nachfolge“ werden die „todbringenden Kräfte“ genannt, „die die Weltordnung erschüttern und vielen Menschen Leid bringen“ – Kriege und Konflikte, Umweltzerstörung, das ungerechte Welt-Finanzsystem. Niemand rechnete damit, dass die Weltordnung auch durch eine Pandemie erschüttert werden könnte.
Die San Antonio-Formel spricht genau betrachtet von einer innertrinitarischen Dynamik. Es ist derselbe dreieinige Gott, der Schöpfer der Welt, dessen Liebe sich im Sohn zeigt, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, und der als Geist in Seiner Welt wirkt und weht. Von daher ist es folgerichtig, dass Christ*innen beide Haltungen einnehmen, ohne daraus einen Gegensatz zu machen. Sie schulden, durch Gottes Liebe verändert, allen die Botschaft von der Liebe Gottes, und um ihrem Gott treu zu bleiben, unterscheiden sie die Geister und finden die Spuren Gottes in den Glaubensleben und Zeugnissen anderer, mit denen sie sich gemeinsam für eine Veränderung der Welt einsetzen. Schon in der Ökumenischen Erklärung von 1982 hieß es dazu: „Der Geist Gottes ist immer am Werk auf Weisen, die menschliches Verständnis übersteigen und an Orten, wo wir es am wenigstens erwarten. Wenn sie sich also in ein Dialogverhältnis mit anderen einlassen, dann suchen Christen die unergründlichen Reichtümer Gottes zu entdecken und die Weise, in der er mit der Menschheit umgeht.“ (s. Literaturliste, Mission und Evangelisation)
Ein frühes christliches Bildwort spricht davon, dass Christus am Kreuz seine Hände ausspannt, um den Erdkreis zu umspannen (Moltmann zitiert hier Kyrill von Jerusalem, s. Literaturliste, der gekreuzigte Jesus). Es hält zusammen, dass Christus als der gekreuzigte und doch lebendige Gott die Welt von innen verändert, und dass er als Person der Schöpfer- und Geistgemeinschaft diese Welt als Seine von außen hält. Im Sinne des dritten Artikels des Glaubensbekenntnisses kann Gott als Christus im Geist als eine lebendige Wirkmacht gedacht werden, die Resonanz in den anderen Religionen ausübt. In diesem Sinne könnte neu über die Liebe Christi in der Begegnung mit Menschen anderen Glaubens nachgedacht werden, besonders, wenn es um das Zeugnis geht, wie Menschen von Gottes Liebe erfahren und ergriffen werden können sowie eine Verwandlung aufgrund von Gottes Handeln erleben. (s. Literaturliste, Konversionsbewegungen im religiösen Feld)
Eine solche Theologie und eine solche Haltung sind anspruchsvoll und je nach Kontext nicht einfach zu formulieren. Beiträge in der jüngeren Zeit zu den Erklärungen verschiedener Landeskirchen in Deutschland haben die darin angelegten Spannungen verdeutlicht. Die Arbeitshilfe der Kirche im Rheinland hatte über das Verhältnis zu Muslimen nachgedacht. Darin heißt es, dass „der Glaube an den einen Gott Juden, Christen und Muslime eint. Die gemeinsame Beziehung zu dem einen Gott hat Folgen auch für das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen.“ Eine der Folgen ist die Aufforderung der (Rheinischen) Kirche: „Eine strategische Islammission oder eine Begegnung mit Muslimen in Konversionsabsicht bedroht den innergesellschaftlichen Frieden und widerspricht dem Geist und Auftrag Jesu Christi und ist entschieden abzulehnen.“ _ Dem wurde in mehrfacher Hinsicht heftig widersprochen. _(s. Literaturliste, Weggemeinschaft und Zeugnis im Dialog mit Muslimen, kritische Auseinandersetzung)
Henning Wrogemann hat in der Folge ausgesprochen kritisch auf die Erklärung der Badischen Kirche reagiert, die ebenfalls davon sprach, dass Christen, Juden und Muslime an den einen Gott glauben. Er kommt darin dicht an einen Häresievorwurf an die Verfasser*innen, wenn er gerade mit der Betonung der Einzigartigkeit Christi dieser Behauptung vehement widerspricht. (s. Literaturliste, Ist Gott in Christentum und Islam derselbe?)
Dazu können auch die Erträge der Konferenz „Towards an Ecumenical Missiology“ (2019) herangezogen werden. Diese vom EMW gemeinsam mit missio Aachen und freikirchlichen und evangelikalen Vertretern und Vertreterinnen aus dem Pazifik, Asien, Mittlerem Osten, Afrika, Lateinamerika, Nordamerika und Europa durchgeführte Konferenz hatte sich auf die Konsequenzen christologischer Entwürfe für eine ökumenische Missionstheologie konzentriert. Die internationale Konferenz knüpfte an die missionstheologischen Gespräche im Rezeptionsprozess „Christliches Zeugnis“ an. Die Unterschiede, die aus den vielfältigen christologischen Entwürfen für eine ökumenische Missionstheologie erwachsen, gingen jedoch sehr viel eindeutiger auf den Kontext zurück, nicht auf die Konfessionen, denen die Theolog*innen angehörten, die sie formulierten. Insbesondere in den Beiträgen aus dem Mittleren Osten wird dabei deutlich, dass hier christologische Entwürfe vorgestellt wurden, die auf der Wahrnehmung der Figur Jesu als Christus im Umfeld des Islam abstellen, wie in der von Martin Accad vorgestellten Tradition der arabischen Christenheit in der Auseinandersetzung mit dem koranischen Jesus/Issa. Wilbert van Saane stellt Entwürfe eines arabischen, phönizischen und palästinensischen Christus vor. In beiden Beiträgen wird deutlich, wie die islamischen Bilder von Jesus als Resonanzraum für ein Nachdenken über eine christliche Christologie dienen.
Wie die Einladung zum Glauben in einer säkularisierten Gesellschaft vor dem Forum anderer Glaubensgemeinschaften in Respekt und Achtung formuliert und gelebt wird, ist ein Aspekt der Kommunikation des Evangeliums, die die ökumenische Bewegung in Deutschland bis und in Karlsruhe beschäftigen wird. Ein anderer ist theologisch daran weiterzuarbeiten, wie es sich mit dem einen Gott verhält. Und zuletzt wird es darum gehen, sich glaubhaft gemeinsam mit Menschen anderer Glaubensweise für eine Transformation der Welt in die Nachpandemieepoche einzusetzen.
Christi Liebe und Menschenwürde
Die Gemeinschaft der Kirchen im ÖRK ist nicht nur Zeichen der Einheit, sondern sie ist gleichzeitig Instrument ihres gemeinsamen Dienstes für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. _ Olaf Fykse Tveit weist in seiner Reflexion über das Thema der Versammlung darauf hin, dass Freiheit, Recht, Gerechtigkeit eine Abfolge von Begriffen und Werten darstellen, die in Politik und Gesellschaft vorzufinden ist. Ohne dass die Kirchen die Rolle des Rechts mindern, wollen sie dieser Reihe die Liebe Christi hinzufügen. Damit werde der Glauben als tiefes Fundament und Motivation für den Kampf um Menschenwürde und für Gerechtigkeit und Befreiung eingebracht. _(s. Literaturliste, Freedom, Love, and Justice)
Teil der kirchlichen Mission in der Welt ist zweifellos die Beteiligung an gesellschaftlichen und ethischen Prozessen, wie sie in Fürsprache, Advocacy und Lobbyarbeit sichtbar werden. Für den Einsatz für Gerechtigkeit und Entwicklung hat sich der rechtebasierte Ansatz weitgehend durchgesetzt, auch um dialogfähig mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, internationalen Organisationen und mit Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften zu sein. Faktisch ist zu beobachten, wie in vielen Ländern das Recht und vor allem das internationale Recht als Bezugsrahmen zurückgedrängt und beschränkt wird. Das wird unter dem Stichwort „shrinking space“ diskutiert, und der Einsatz für einen „open space“ für zivilgesellschaftliches, kirchliches und emanzipatorisch solidarisches Handeln ist Teil der Mission, wie sie im EMW verstanden wird. (s. Literaturliste, Kirchliche Advocacy-Arbeit als Nachfolgepraxis)
© Foto: Albin Hillert/WCC | „Das Kreuz umarmen“: Ein bunt bemaltes Kreuz brachten Jugendliche in die Plenumsveranstaltung „Embracing the cross“ in Arusha mit.
Theologisch steht es den Kirchen gut an, die Liebe Gottes zu loben und als Grundlage ihrer Hinwendung zur Welt zu benennen. Doch die Rede von der Liebe könnte missverstanden werden als Rückkehr zur Betonung der barmherzigen Hinwendung zu Marginalisierten statt deren „epistemologisches Privileg“ (im Paradigma der Mission von den Rändern) zu achten und den Anspruch auf Anerkennung aufgrund des Rechts und ihrer Würde zu fordern.
Die Liebe ist Gottes Option für die Schwachen, „der eine menschliche Option für die Schwachen [entspricht], die in dem Einsatz für Menschenwürde und Menschenrechte ihren konkreten Ausdruck findet“. Die theologische Tradition erinnert zudem an die Begrenztheit und die Fehlbarkeit (theologisch: Sündhaftigkeit) des Menschen. Aus theologischer Perspektive dienen die Menschenwürde und die Menschenrechte daher als ein kritischer Maßstab für jedes Handeln, individuell wie institutionell- kirchlich. _ Mit ihrem Verständnis von Vergebung, Heilung und Versöhnung weist die theologische Perspektive des Weiteren Ressourcen auf, Schuld und Verletzungen von Menschenwürde und Menschenrechten einerseits ernst zu nehmen und zugleich produktiv mit ihnen umzugehen.“ _(s. Literaturliste, Zur Theologie der Menschenrechte)
Eine der starken Gedanken der Weltmissionskonferenz in Athen war, dass Mission als Versöhnung mit einem Engagement für die Zukunft einen Horizont aufruft, der den Konflikt transzendiert, auch wenn seine Überwindung in der von Konflikten geprägten Gegenwart wenig wahrscheinlich erscheint. Die Herausforderung dieser Versöhnungsperspektive besteht darin, dass diejenigen, die es wagen, sich zu versöhnen, „neu“ werden, um sich mit anderen zu versöhnen, und dass sie sich bereits inmitten der Kämpfe und des Konflikts in dieser Vision verankern. Es ist eine Hoffnung, von der Liebe Christi getragen, die Zukunft zu gestalten, weil die Gegenwart unerträglich geworden ist.
Der frühere Generalsekretär des ÖRK Olaf Fykse Tveit hat in einem seiner Beiträge das Thema als Erklärung der Kirchen gegenüber der Welt so verstanden, dass sie sich fragen müssen, ob sie vor die Welt überzeugend von Christi Liebe bewegt sind und sich für das common good aller Menschen einsetzen; und weiter, ob die Kirchen so der Einheit verpflichtet sind, dass sie von der Welt als Zeichen für die verheißene Einheit der Menschheit und Schöpfung gelten können. (s. Literaturliste, Freedom, Love, and Justice)
Kirchen und Werke, wie die im EMW zusammengeschlossenen, setzen sich in vielfältiger Weise für Menschenrechte, Gerechtigkeit und für die Sustainable Development Goals ein. Gegenwärtig ist zu befürchten, dass die Bewältigungsversuche der Folgen der Pandemie Nationalismen und Protektionismus stärken. Gleichzeitig werden internationales Recht und globale Institutionen geschwächt und zivilgesellschaftliches Engagement beschränkt. Auch in diesen Bereichen wird Karlsruhe eine Chance für die ökumenische Bewegung sein, ihr Engagement zu überprüfen und internationale Kooperation vorzuleben.
Proklamation und Provokation
Der katholische Theologe W. Thönisen hat in seinem Kommentar zum Thema der Vollversammlung betont, dass der ÖRK „ein Instrument für die wachsende Einheit der christlichen Kirchen und zugleich ein Instrument im Dienst der Kirchen für die Menschheit und ihre großen Fragen ist: Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit und die Bewahrung der Schöpfung“. Dieser Dienst und die wachsende Einheit unter den Kirchen, auch außerhalb des ÖRK, werden von ihm als hoffnungsvolles Zeichen auf dem Weg einer versöhnten und geeinten Menschheit verstanden. (s. Literaturliste, „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt“) Das Thema bleibt sowohl eine missionarische Proklamation wie eine Provokation für die Welt außerhalb der Kirchen. Dabei kann es vor dem Hintergrund der dargelegten Aspekte als ein Kompendium der Missionstheologie in nuce, wie sie in der jüngeren ökumenischen Bewegung verkörpert ist, verstanden werden. Mission als Versöhnung verkündet in Wort und Tat, dass Christus der Ausdruck der Liebe Gottes ist. Auf der Grundlage von 2. Korinther 5 kann dies als dynamische Bewegung innerhalb des dreieinigen Gottes verstanden werden, die sich in dieser Welt in die Motivation der Christus Nachfolgenden übersetzt, die Welt im Einklang mit den Verheißungen des Evangeliums umzugestalten. Gleichzeitig erinnert uns die innertrinitarische oikonomia des Heils daran, dass es Gott ist, der die Welt verwandeln wird. Der Geist wirkt nicht nur durch diejenigen, die Christus bekennen. Als Christinnen und Christen sind wir daher aufgerufen, das Wirken des Geistes zu erkennen, der die Welt zu Einheit und Versöhnung bewegt, auch in der nicht-christlichen Welt. Um Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung zum Blühen zu bringen, müssen Christen und Christinnen sich mit anderen dafür einsetzen und sich dafür engagieren.
Der frühere missionstheologische Berater des EMW-Vorstandes Theodor Ahrens hat einmal die gelungene Formulierung vorgeschlagen, dass die Kirche unglaubwürdige Zeugin eines glaubwürdigen Wortes ist. Daher dürfe die Kirche mit Blick auf ihr Zeugnis und ihre Aktivitäten durchaus selbstbewusst auftreten – doch auch selbstkritisch, wenn es um den Anspruch auf Autorität und Deutungshoheit geht. Dabei kann der Glaube leiten, dass, was immer wir tun können, nichts nützen wird, wenn nicht der Geist Gottes die Welt heilt und verwandelt – diese Dimensionen von Gottes Liebe sollten wir in unserer Mission nicht aus dem Blick verlieren. In dieser Vision ist alles christliche Nachdenken und Handeln aufgehoben und die Verheißung zeigt gleichzeitig die Grenzen aller menschlichen Bemühungen auf. Dies ist das Geschenk der Liebe und der Versöhnung, die Gott in der Gemeinschaft von Vater, Sohn und Heiligem Geist aus sich heraussetzt.
von Michael Biehl für den EMW-Jahresbericht 2019/2020
“Called to Transforming Discipleship in North-Western Europe. Some Reflections on Witnessing in Secularized Contexts”, Anders, Christoph, Michael Biehl und Gerrit Noort, in: Resource Book. Conference on World Mission and Evangelism, “Moving in the Spirit – Called to transforming Discipleship”, 8-13 March 2018, Arusha, Tanzania, ed. by Jooseop Keum, Geneva 2018, 84- 101.
Dein Wille geschehe. Mission in der Nachfolge Jesu Christi. Darstellung und Dokumentation der 10. Weltmissionskonferenz in San Antonio 1989, hg. v. Joachim Wietzke, Frankfurt/M. 1989, 142.
Der gekreuzigte Gott, Moltmann, 192.
„Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt“. Eine Reflexion über das Thema der 11. Vollversammlung des ÖRK aus römisch-katholischer Sicht, Thönissen, Wolfgang, in: Materialdienst 71, 2020, 26-31, hier 26 und 31.
Die ökologische Wende in der christlichen Theologie, Moltmann, in: Grüne Reformation, 28.
Freedom, Love, and Justice. Christ’s Love Moves the World to Reconciliation and Unity, Olav Fykse Tveit in: Ecumenical Review 71(1-2), 2019, 5-12.
„Gemeinsam für das Leben“, Para. 56, 93, 102.
Geschichte des interreligiösen Dialogs, Dehn, Ulrich, Berlin 2019.
Herrschaftsmandat als Herrschaftskritik: „Grüne Hermeneutik“ im ersten Schöpfungsbericht, Brigitte Kahl in: Grüne Reformation. Ökologische Theologie, Hamburg 2017, 64.
Ist Gott in Christentum und Islam derselbe? Kritische Bemerkungen zu einem Gesprächspapier der Evangelischen Landeskirche von Baden, Wrogemann, Henning, in: Deutsches Pfarrerblatt 118, 2018, 687-691, besonders die letzte Seite.
Kairos for Creation. Confessing Hope for the Earth. The “Wuppertal Call” – Contributions and recommendations from an International Conference on Eco-Theology and Ethics of Sustainability. Wuppertal, Germany, 16-19 June 2019 (For Human Rights, 20). Ed. by Louk Adrianos, Michael Biehl, Ruth Gütter, Jochen Motte, Andar Parlindungam, Thomas Sandner, Juliane Stork and Dietrich Werner, Solingen 2019.
Kairos für die Schöpfung – Hoffnungsbekenntnis für die Erde. Die Wuppertaler Erklärung, in: Kairos for Creation. Confessing Hope for the Earth, 317-321, hier: 319.
Kirchliche Advocacy-Arbeit als Nachfolgepraxis, Krieg, Martin, in: Nachfolge, die verwandelt, Hamburg: EMW, 2017, 34-40.
Konversionsbewegungen im religiösen Feld. Dokumentation der Beiträge einer Tagung der Theologischen Kommission des Evangelischen Missionswerkes in Deutschland in Kooperation mit missio Aachen, Hamburg o.J., Biehl, Michael, und Ulrich Dehn, (Hg.)
Mission und Evangelisation. Eine ökumenische Erklärung, in: „Ihr seid das Licht der Welt.“ Missionserklärungen des Ökumenischen Rates der Kirchen von 1980-2005, hg. v. Matthey, Jacques, Genf 2005, 33f.
Weggemeinschaft und Zeugnis im Dialog mit Muslimen. Arbeitshilfe, Evangelische Kirche im Rheinland, Düsseldorf 2017, 14.
Weggemeinschaft und Zeugnis im Dialog mit Muslimen. Kritische Anmerkungen zur Arbeitshilfe der Evangelischen Kirche im Rheinland (Ms. 2016), Währisch-Oblau, Claudia, und Henning Wrogemann, Thomas Schirrmacher (abgerufen 15.08.2020)
Zur Theologie der Menschenrechte. Positionen und Perspektiven, Schliesser, Christine, in: Jäger, Sarah, und Friedrich Lohmann, (Hg.), Theologie der Menschenrechte (Frieden und Recht, 2), Wiesbaden 2019, 13-46, hier: 39.