Gott und den Mitmenschen verpflichtet

Welche Rolle spielt die christliche Gemeinschaft in Syrien heute? Sie sieht sich gerufen, Christ*innen und Nichtchrist*innen, die in Syrien mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert sind, zu helfen und sie zu unterstützen. Ein Beitrag aus dem EMW-Jahresbericht 2019/2020.

Das Volk Gottes steht in Kontrast zu einer Welt, die von Einsamkeit, Isolation und Egozentrik geprägt ist – zumindest sollte es. So wie Christus seine Kirche liebt, sind wir Christinnen und Christen als seine Kinder berufen, einander zu lieben, in Harmonie miteinander zu leben, zu vergeben, zu ermutigen und zu dienen, miteinander zu teilen und unser Leben füreinander zu geben. So gehören wir in Christi Liebe auf tiefe Weise zueinander. Wir sind berufen, durch den gemeinsamen Glauben und das gemeinsame Blut eng miteinander verbundene Gemeinschaften zu sein.

Nach zehn Jahren Krieg, in denen Hass und Feindschaft in vielen Teilen der Gesellschaft zerstörerisch wirkten, wird die Liebe Christi mit ihrer verwandelnden Kraft Konflikte lösen und eine Atmosphäre der Akzeptanz der kulturell und im Glauben „Anderen“ schaffen. Durch unseren Dienst wenden wir uns den Verletzungen der Welt zu. Durch unser Zeugnis bezeugen wir den Erlöser der Welt und seine Güte. Und indem wir „Salz und Licht“ sind, wagen wir es, in der gegenwärtigen Dunkelheit einen Unterschied zu machen.

Gott hat von seiner Kirche immer erwartet, dass sie ein Vorposten des Erbarmens ist, sich um die Bedürfnisse anderer kümmert und sich im Dienst verausgabt. Wenn wir uns in selbstlosem Dienst engagieren, haben wir Teil sowohl am Wesen wie am Werk unseres Herrn. Wir sind berufen, Zeugnis zu geben. Jesus bestimmte seine Aufgabe als das „Suchen und Retten der Verlorenen“. Er beauftragte seine Kirche, „in alle Welt zu gehen“.

Die frühe Kirche stellte mit ihrem kraftvollen Zeugnis von Leben, Tod und Auferstehung Jesu die Welt auf den Kopf. Wir sollten nicht weniger tun. Die christliche Gemeinschaft Syriens ist eine der ältesten der Welt, denn sie besteht seit zwei Jahrtausenden. Mein Land gehört zu denen, die in der Bibel eine wichtige Rolle spielen. Saulus, der zum Apostel Paulus wurde, war auf dem Weg zu „meiner“ Hauptstadt Damaskus, wo es schon damals eine Kirche gab und immer noch gibt. Vor zweitausend Jahren war diese Kirche so lebendig, dass die jüdischen Ältesten in Jerusalem ihr ein Ende setzen wollten. Sie schickten einer ihrer militantesten Führer in Richtung Damaskus, und wir wissen, was auf dieser Straße nach Damaskus geschah und wie viel Angst die Kirche vor diesem Saulus hatte. Sie brauchte eine göttliche Intervention, um einen ihrer Leute Saulus entgegenzuschicken, damit dieser geheilt und später zum Weltevangelisten“ wird.

Von diesem vereitelten Versuch, die Kirche von Damaskus zu verfolgen, können wir einige Dinge lernen. Erstens: Gott kümmert sich um seine Kirche! Zweitens: Er nutzt die Mitglieder der Ortsgemeinde für Veränderung. Und drittens: Die hasserfüllten Feinde können die Liebe Jesu und die Kraft Jesu zur Veränderung erfahren! Tun wir, etwas schlichter gesagt, alles, was wir können, um in Frieden mit unserem Ehepartner, unseren Kindern, unseren Eltern, unseren Verwandten, unseren Nachbarn zu leben und sogar mit unseren Feinden? Nach 2. Korinther 5,17-20 sind wir als Sein Volk nicht nur eine neue Schöpfung, sondern etwas Neues in dieser Welt, als uns der Dienst der Versöhnung übertragen wurde. Wir wurden beauftragt, die Menschen mit Gott und untereinander zusammenzubringen. Wir sind auserwählt, Gottes Friedensstifter zu sein, die die anderen um uns herum in Liebe wieder vereinen.

Als Christ*innen waren und sind wir ein integraler Bestandteil der syrischen Gesellschaft. Bis zum Beginn des Krieges gab es in fast jeder Stadt des Landes Christ*innen. In ihren Gemeinden waren sie wahrscheinlich enger verbunden als die Menschen in den meisten europäischen Ländern. Da die Kirchen oft eine Schule anbieten, ist es sehr wahrscheinlich, dass viele Eltern ihre Kinder in die christliche Schule schicken und auf diese Weise ein größerer Prozentsatz der christlichen Bevölkerung mit der Kirche verbunden ist.

In den letzten zehn Jahren hat sich die Situation dramatisch verändert. In einigen Städten und Gemeinden hat es „ethnische Säuberung“ gegeben, was wir als Armenier*innen aus der Geschichte kennen. In den meisten Fällen konnten die Christ*innen fliehen, mussten ihren Besitz zurücklassen und konnten nur ihr eigenes Leben retten. Eine große Anzahl von Christ*innen, über die man im Westen gehört hat, wurde entführt und monatelang festgehalten. Immer noch wird eine große Zahl als Geiseln festgehalten.

Heute kämpfen Tausende von Menschen in Syrien um ihre Sicherheit und ihren Lebensunterhalt, und die Zahl der Empfänger*innen von Hilfsleistungen nimmt sehr schnell zu, da der Krieg die syrische Wirtschaft weiterhin zerstört. Die meisten Fabriken in Aleppo sind zerstört, schwer beschädigt oder geplündert. Ihre Arbeiter*innen flohen oder wurden zu Kämpfer*innen. Arbeitslosigkeit und der dauerhaft fehlende Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnraum und Nahrungsmitteln hat die Auswirkungen des Konflikts noch verschärft und Millionen von Menschen in Armut getrieben. Das tägliche Einkommen reicht nicht für den Lebensunterhalt. Hinzu kommt, dass die Corona-Krise und die gegen Syrien verhängten Sanktionen die friedliche Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen haben, was zu Geschäftspleiten, Massenarbeitslosigkeit und der Einstellung vieler normaler Aktivitäten geführt hat. Eine tragische Situation für eine Gemeinschaft, die seit langen Jahren einen äußerst brutalen Krieg erlebt.

Mitten in all diesen täglichen Herausforderungen ist die Kirche immer noch da, und sie funktioniert. Sie hält nicht nur Messen und Gottesdienste und lädt Menschen ein, Christus in einem Gebäude zu begegnen. Nein, die Kirche in unserem Land musste wie schon so oft in ihrer Geschichte hinaus zu den Menschen gehen. Die armenische und andere christliche Gemeinschaften kümmern sich um die Bedürfnisse ihrer Glieder und der Nächsten um sich. Die Leitenden der christlichen Gemeinden haben ihr Möglichstes getan, damit das Leben über den Tod siegt.

Als Leitende der Gemeinschaft sind wir den Menschen verpflichtet, die wir seelsorgerisch betreuen, und das bedeutet, dass wir Hirten sind. Die Hirten können nicht einfach weglaufen, besonders wenn Gefahr droht. Das ist die Lehre unseres Herrn Jesus Christus: Der Hirte ist bereit, sein Leben für seine Schafe hinzugeben! Wenn wir in den guten Tagen an Seine Lehre glauben, sollten wir ihr dann nicht umso mehr folgen, wenn die harten Zeiten der Prüfung kommen? „Die Kirche ist hier!“ Das ist das Mindeste, was wir für Jesus tun können, der sein Leben für uns hingegeben hat. Als Kirchenleitende sind wir aufgerufen, alles in etwas Gutes zu verwandeln. Etwas, das der Gemeinschaft zu Gute kommt.

Hingabe ist heute das Schlüsselwort. Wir sind in erster Linie Gott und dann unseren Mitmenschen verpflichtet. Unsere Herzen sind durch eine persönliche Begegnung mit unserem Herrn Jesus Christus verändert worden. Sobald Er unsere Herzen verändert hat, ist unser Mitmensch, sogar der „Samaritaner“, der nicht zu unserer Familie oder Gruppe gehört, für uns wichtig geworden. So wichtig, dass wir auch für ihn alles tun, was wir können.

Wir haben so viel Zerstörung gesehen, dass es uns fast betäubt hat. So oft müssen wir unseren Herzen sagen, dass sie nicht verhärten und unempfindlich gegenüber der Situation und dem Leid werden dürfen, das so viele Menschen durchmachen. Ich erinnere mich lebhaft an die alte Dame, die tief in der Nacht an unsere Tür kam. Ihr Haus war zerschossen worden. Sie konnte um diese Zeit nirgendwo hingehen und sagte sich selbst: „Die Kirche hat mich immer aufgenommen, und wenn sie mich vorher aufgenommen hat, wird sie mich auch jetzt aufnehmen, da ich wirklich in Not bin.“ Die Kirche muss die Menschen zu jeder Zeit empfangen. Wir müssen uns an Zeitpläne halten, aber wenn die Kirche in eine Notaufnahmestation verwandelt werden muss, dann werden die Pläne zweitrangig. Es gibt kein Wegrennen vor den Bedürftigen. Dies ist die Zeit, in der wir handeln und sensibel auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen müssen. Eine Zeit, in der die Menschen entscheiden, was die Kirche wirklich sein sollte.

Unsere Liebe muss über allen Menschen leuchten. Eines der letzten Worte unseres Herrn Jesus Christus war, dass wir einander lieben sollen – dann fangen wir besser sofort an und widmen unser Leben dem Dienst am Nächsten.

Schließlich, die Kirche ist dazu berufen, „Salz und Licht“ zu sein, den Lebensstil Christi durch Vorbild, Konfrontation und beharrliche Lehre weiterzugeben. Manchmal hat unser Kontakt mit der Welt wenig damit zu tun, Menschen zum Glauben zu bringen oder Nöte zu lindern, und viel damit, das Leben in der Welt erträglicher zu machen. Deshalb sollten wir Zeichen der Hoffnung und Einheit sein, die von der Gegenwart Christi in unserer Welt ausgeht. Deshalb sind wir aufgerufen, Jünger*innen zu sein, deshalb sind wir aufgerufen, Christ*innen zu sein, Kirche, Zeichen der einen Menschheit zu sein, zu der Gott uns geschaffen hat, gemeinsam aus allen Schichten der Gesellschaft, aus allen Stämmen und Nationen, aus Konfessionen und Kontinenten.

Die Bibel ist voll von Beispielen, wie Gott Menschen zu Aufgaben berief, für die sie in einzigartiger Weise begabt und qualifiziert waren. Moses, der am Hof des Pharaos erzogen und ausgebildet wurde, wurde gerufen, Gottes Forderung nach der Freiheit seines Volkes an den Pharao zu überbringen. Gott rief Josua dazu auf, die Israeliten bei der Eroberung des verheißenen Landes anzuführen. David wurde berufen, Israels König zu sein. Jona wurde berufen, Gottes Gericht über das heidnische Ninive zu verkünden, während Amos damit beauftragt wurde, über das ungläubige Israel den Untergang zu verkünden. Paulus wurde beauftragt, Heiden zum Glauben an Jesus zu rufen, während Petrus zur Arbeit unter Juden gesandt wurde. Ich glaube, dass Gott uns heute in dieser Zeit der Herausforderungen berufen hat, den Christ*innen und Nichtchrist*innen, die in Syrien mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert sind, zu helfen und sie zu unterstützen. „Wenn du den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.“ (Jesaja 58,10).

Möge Gott uns und unser gemeinsames Zeugnis für Christus in Liebe segnen, auf dem Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens! Wir sind berufen, Zeugnis abzulegen.

von Haroutune Selimian für den EMW-Jahresbericht 2019/2020


Zur Person

Haroutune Selimian ist Vorsitzender der Union Evangelisch-Armenischer Gemeinden in Syrien und Pfarrer in Aleppo.

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