Vollversammlungen und ihre Themen – ein Überblick

Die Vollversammlung ist das oberste legislative Organ des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und tritt alle acht Jahre zusammen. Ihre offizielle Aufgabe ist die Überprüfung der Programme und die Festlegung der allgemeinen Ausrichtung der Arbeit des ÖRK sowie die Wahl des Präsidiums und des Zentralausschusses. Letzterer ist das Leitungsorgan des ÖRK in der Zeit zwischen den Vollversammlungen. Das Thema einer ÖRK-Vollversammlung „bietet auch einen Schwerpunkt für theologische Reflexion, Gottesdienst und Meditation im Kontext der Vollversammlung. Außerdem findet das Thema Berücksichtigung bei der Planung von Aktivitäten im Vorfeld, während und nach der Versammlung.“

Wenn wir an die Themen der bisherigen Vollversammlungen des ÖRK denken, fällt etwas auf. Im Titel für Amsterdam (1948) „Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan“ finden wir ein Begriffspaar, der Mensch (als Teil der Schöpfung) und Gott. Mit dem Thema der zweiten Vollversammlung im amerikanischen Evanston „Christus – die Hoffnung der Welt“ wurden aus Gott und Mensch Christus und die Welt und eine Grundaussage des christlichen Glaubens proklamiert: Die Hoffnung der Welt ist Christus. Das Thema der dritten Vollversammlung in New Delhi, Indien (1961), „Jesus Christus – das Licht der Welt“ war wieder Christus-orientiert, und das Begriffspaar ist Christus als Licht, und die Welt. Es verwies zum ersten Mal auf einen Bibelvers (Johannes 8,12).

Das Thema der vierten Vollversammlung (Uppsala, Schweden, 1968) ist ein direktes Bibelzitat: „Siehe, ich mache alles neu” (Offenbarung 21,5). Nicht gesagt wird, wer derjenige ist, der spricht, nur dass es der ist, „der auf dem Thron saß“. Das Begriffspaar ist also: „der auf dem Thron saß” (und sprach und neu macht), und „alles”, was als Verweis auf die Welt/Schöpfung/den Kosmos verstanden werden kann. Das Thema der fünften Vollversammlung des ÖRK in Nairobi, Kenia (1975), „Jesus Christus befreit und eint” war kein direktes Bibelzitat, doch die Proklamation einer christlichen Glaubensüberzeugung: Es ist Christus, der befreit und die Welt/Schöpfung eint. Es bleibt offen, ob spezifisch Christ*innen oder die Menschheit gemeint sind. Das Thema der sechsten Vollversammlung des ÖRK in Vancouver, Kanada (1983) ist wieder klar Christus-orientiert: „Jesus Christus, das Leben der Welt”. Das Begriffspaar ist Jesus Christus (als das Leben) und (das Leben der) Welt. Es hat in Johannes 14,6 ein biblisches Echo: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.” Das Thema formuliert eine christliche Überzeugung: Jesus Christus bedeutet das Leben für die Welt, auch wenn die Welt nicht an ihn glauben will.

In den folgenden 30 Jahren (1991–2021) hat der ÖRK diese Christus-Orientierung nicht fortgeführt. In dieser Zeit hatten Vollversammlungen (Canberra, Australien, 1991; Harare, Simbabwe, 1998; Porto Alegre, Brasilien, 2006; Busan, Südkorea, 2013) nichts explizit Christologisches in ihren Themen; so lautete das Thema der bisher letzten Vollversammlung in Busan: „Gott des Lebens, weise uns den Weg zu Gerechtigkeit und Frieden“.

Das Thema der kommenden Vollversammlung in Karlsruhe ist daher eine Rückkehr zu einem christologischen Thema wie zuletzt in Vancouver. Wieder finden wir ein komplexes Begriffspaar: auf einer Seite Christi Liebe, die (die Welt) bewegt und auf der anderen Seite Versöhnung und Einheit (für die Welt). Es ist teilweise ein Echo von 2. Korinther 5,18–19: „Aber das alles ist von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“ Das Thema formuliert eine fundamentale Wahrheit des christlichen Glaubens: Gott hat in Jesus die Welt versöhnt und eint sie. Gott ist der Ursprung aller Liebe in der Welt (vgl. 1. Johannes 4,8b), und die Liebe Christi zeigt die Form und Modalität der Liebe. Die Liebe der Christ*innen nimmt an der Liebe Christi teil und ist ein Zeugnis für die Welt.

Es ist nicht eindeutig, was das Verb „bewegt” im Zusammenhang mit der „Welt” genau bedeutet und auch „Welt” bleibt unbestimmt. So kann man fragen: Will der Titel behaupten, dass alle Bewegung in der Welt von Christi Liebe verursacht ist? Theologisch ist das Thema höchst interessant, nicht nur weil es tief christologisch ist, sondern auch weil es so offensichtlich missiologisch ist und an die Konferenz für Weltmission und Evangelisation in Arusha in 2018 anknüpft: „Vom Geist bewegt – zu verwandelnder Nachfolge berufen”. Die Arusha-Konferenz hat discipleship sehr betont. Es ist die Nachfolge Christi, und nicht expressis verbis „Nachfolge Gottes” oder „Nachfolge des Geistes“. In dem kurzen aber wichtigen Konferenzdokument Aufruf von Arusha zur Nachfolge (2018) wird beispielsweise der „Heilige Geist“ zweimal erwähnt, einmal heißt es „Gottes Geist“, aber „Jesus“, „Jesus Christus“ und „Christus“ kommen insgesamt sechsmal (ohne Schlussgebet) vor.

Die Verbindung zwischen dem Thema der Weltmissionskonferenz und dem der nächsten Vollversammlung ist leicht zu erkennen: Es handelt sich spezifisch um die Liebe Christi, nicht die Liebe Gottes und nicht die Liebe des Geistes. Das deutet meiner Meinung nach auf ein Bedürfnis der Kirchen hin, ihre Identität in der Nachfolge Christi zu stärken. Die Arusha-Weltmissionskonferenz hat ihre Vorstellung der „verwandelnden Nachfolge” dargestellt, die sowohl individuell als auch gemeinschaftlich ist. Ein einzelner Jünger Jesu bedarf einer innerlichen Transformation, um seine Erfahrung anderen als Aufruf zur Veränderung und zur Nachfolge weiterzugeben. Als Nachfolger*innen Jesu müssen wir erst geistlich verwandelt werden, um Akteur*innen (Englisch: agents) der Transformation zu werden. Es handelt sich um eine Reise in das Selbst und aus dem Selbst, denn die Nachfolge existiert nicht für unseren eigenen geistlichen Komfort, sondern sie hat eine transformative Auswirkung auf uns, in der Nähe und „bis an das Ende der Erde” (Apostelgeschichte 1,8).

Was bedeutet das für uns und für die globale Christenheit jetzt und in den kommenden Jahren? „Christi Liebe bewegt, versöhnt und eint die Welt” ist eine Erinnerung an das, was Dietrich Bonhoeffer in seinem Buch Nachfolge schon vor über 80 Jahren gesagt hat: „Ein Christentum ohne den lebendigen Jesus Christus bleibt notwendig ein Christentum ohne Nachfolge, und ein Christentum ohne Nachfolge ist immer ein Christentum ohne Jesus Christus”. Es handelt sich hier um die Nachfolge Jesu, und sie ist immer ein christliches Zeugnis, das heißt Mission. David Bosch hat zu Recht festgestellt, dass „der christliche Glaube ein missionarischer Glaube ist, oder er (ist) überhaupt kein Glaube.” Wir können also nicht die Nachfolger*innen Jesu sein, ohne den lebendigen Christus und seine Liebe für uns zu erfahren. Der Aufruf von Arusha zur Nachfolge ist für die Christ*innen eine Erinnerung und ein Aufruf, daran zu denken, was die Nachfolge Christi in dieser Zeit bedeutet, und dann an dieser großen Bewegung Christi Liebe teilzunehmen. Mission ist ein Zeugnis dieser Liebe Christi in der Welt, und es ist genau diese Liebe, an der die Christ*innen aktiv teilnehmen, nicht ihre eigene Liebe. Das alles gehört zu der Mission des trinitarischen Gottes, missio dei, für die Versöhnung und Einigung der Welt.

von Risto Jukko für den EMW-Jahresbericht 2019/2020


Zur Person

Dr. Risto Jukko ist Direktor der Kommission für Weltmission und Evangelisation des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK).

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