Provokation oder Verheißung?

Im Sommer 2022 trifft sich eine große Zahl von Christ*innen aus der ganzen Welt zur 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. Für viele Besucher*innen wird das, ganz im Sinne des Versammlungs-Mottos, ein bewegender Moment sein. Doch das Thema der Versammlung „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt“ hat deutlich mehr zu bieten. Matthias Ehmann, Lehrbeauftragter für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie, beleuchtet das Thema aus freikirchlicher Perspektive und nimmt dabei besonders den Aspekt „der Bewegung“ in den Blick.

Nach Monaten der Isolation von Menschen und Ländern, nach der Trauer um hunderttausende Tote und nach dem Stillstand von weiten Teilen des öffentlichen Lebens, trifft sich die weltweite ökumenische Bewegung in Karlsruhe. Für viele, gerade für die Gesellschaften außerhalb der wohlhabenden Industriestaaten, werden die Auswirkungen der Corona-Pandemie dann noch nicht überwunden sein.

Auch abseits der reinen Dynamik einer Großveranstaltung mit ihren geskripteten Zeitpunkten emotionaler Ansprache ist zu erwarten, dass es zu bewegenden Momenten und Begegnungen kommen wird, wenn sich die weltweite Kirche im Rahmen der ökumenischen Bewegung nach Zeiten der Isolation trifft.

Zunächst nur frommer Wunsch

Das Thema der Vollversammlung, „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt“, bietet dafür einen inhaltlichen Rahmen. Dabei bleibt das Thema zunächst ein „frommer Wunsch“. Dies gilt aus meiner Perspektive in zweifacher Hinsicht: Versöhnung und Einheit in der Welt sind ein Wunsch, bestenfalls ein Prozess und sicher nur in Teilen eine erlebbare Realität. Das Thema beschreibt so eine Zielvorstellung, eine im Glauben zu erwartende Realität und keine Gegenwartsbeschreibung – einen frommen Wunsch. Denn schon das Thema hört sich in meinen Ohren ausgesprochen fromm an.

Während in den Themen der Vollversammlungen seit Canberra jeweils Bitten formuliert wurden – meist an Gott und seinen Geist, teilweise auch an die Menschen als Ruf zur Umkehr – steht nun wieder eine christologische Zuspitzung im Mittelpunkt. Genau genommen handelt es sich dabei nicht um einen Wunsch, sondern um eine proklamatorische Aussage. Ganz im Duktus der Vollversammlung von Nairobi 1975, „Jesus Christus befreit und eint“, werden definitive Aussagen über Jesus, den Christus getroffen. Während im Titel die Einheit als zentrales Motiv der ökumenischen Bewegung wiederkehrt, wird dieses nun durch die Themen Bewegung und Versöhnung ergänzt.

Die Themen Versöhnung und Einheit scheinen mir gängige und eingeführte Themen der ökumenischen Bewegung zu sein. Unschärfer, erklärungsbedürftiger – in meinen Augen dadurch auch interessanter – ist die Bewegung. Was bedeutet es, dass die Liebe Christi die Welt nicht nur eint und versöhnt, sondern auch bewegt?

Evangelische Landes- oder Freikirche spielt in globaler Ökumene keine Rolle

Ich schreibe aus einer freikirchlichen Perspektive. Während einige der Freikirchen in Deutschland selbst Teil des Ökumenischen Rates der Kirchen sind, arbeiten andere eher auf Ebene der Arbeitsgemeinschaften Christlicher Kirchen und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen mit anderen Kirchen zusammen. Dies prägt meiner Ansicht nach wesentlich, wie stark die Vollversammlung in Karlsruhe, und damit auch ihr Thema, überhaupt im Bewusstsein der jeweiligen Freikirchen verankert ist. Aus Perspektive der Interkulturellen Theologie ist dabei sicher wahrzunehmen, dass die Kategorie der „Freikirche“ als analytische Kategorie ihre Berechtigung nur in den meist europäischen Strukturen mit ihrer Unterscheidung von Staats- bzw. Landeskirchen und von Freikirchen hat, innerhalb der globalen Ökumene ist sie weitgehend hinfällig.

Freikirchen sind in dieser Hinsicht zuerst und vor allem evangelische Kirchen, meist mit einer spezifischen Frömmigkeitstradition und häufig einer kongregationalen Kirchenstruktur. In dieser Tradition resoniert die christologische Zuspitzung des Themas der Vollversammlung sicher stärker als die allgemeinere Rede von Gott. Dass es Christus ist, der versöhnt, stellt eine Glaubensgrundlage dieser Kirchen in ihrer reformatorischen Tradition dar. Und auch wenn die Einheit nicht immer im Rahmen des Ökumenischen Rates der Kirchen gesucht wird, so bleibt sie doch auch für Freikirchen ein Auftrag, den sie in unterschiedlicher Weise verfolgen. Die Bewegung in dieser Frage innerhalb der Freikirchen in Deutschland zeigt das intensive Ringen des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in der Frage, ob der Bund Mitglied im Ökumenischen Rat der Kirchen werden soll. Bisher hat die pandemische Lage die ursprünglich für den Bundesrat der Kirche im Jahr 2020 geplante Entscheidung verhindert.

Bewegt-werden und Bewegt-sein als zentrales Motiv

Die etwas unklare und sperrige Aussage „Die Liebe Christi bewegt die Welt“ ist zumindest in meinem freikirchlichen Umfeld anschlussfähig, verstehen sich viele Freikirchen und freikirchlichen Missionsbewegungen doch selbst idealtypisch als Bewegung. Während auf der einen Seite in vielen Freikirchen ein ausgeprägter Hang zur Institutionenkritik besteht, stellt Bewegungsförmigkeit ein hohes Ideal im freikirchlichen Kontext dar. In Freikirchen ist das Bewegt-werden und Bewegt-sein ein zentrales Motiv.

Über Bewegung zu reden, kann dabei sicherlich auch Teil einer Selbstvergewisserungsstrategie einer alternden Organisation sein. Proklamation beinhaltet dabei immer ein performatives Moment und schwankt so zwischen Verheißung und dem sprichwörtlichen Pfeifen im Wald. Meine eigene Kirche, der Bund Freier evangelischer Gemeinden, hat sich vor wenigen Jahren ein neues Bundesmotto gegeben. Es lautet: „Bewegt von Gottes Liebe bauen wir lebendige Gemeinden“. Natürlich habe ich zuerst an dieses Motto, an die Gemeinsamkeiten und Unterschiede gedacht, als ich das Thema der 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates hörte.

Wer wird von der Liebe bewegt?

Interessant, dass die Liebe im Thema der Vollversammlung als Liebe Christi spezifiziert ist, während sie im Bundesmotto meiner Kirche allgemeiner als Liebe Gottes qualifiziert bleibt. Gängigen Klischees folgend, hätte man das vielleicht genau andersherum erwartet. Ein weiterer Gedanke drängt sich in diesem Vergleich auf. Wer wird von der Liebe bewegt? Ganz im Duktus einer Proklamation verkündet und verkündigt uns das Thema der Vollversammlung: die Liebe Christi bewegt die ganze Welt. Nicht nur uns, nicht nur ein paar Ökumeniker*innen, nicht nur Missionar*innen und Pastor*innen, nicht nur Christ*innen – die Liebe Christi bewegt die Welt. Man kann das als Übertreibung oder gar als Provokation hören, aber eben auch als Zusage und Verheißung.

Persönlich hat mich bewegt, wie Christ*innen aus Gemeinden in China in der Notsituation der Pandemie Masken gespendet und nach Europa geschickt haben. Das alles, obwohl die staatliche Repression gegenüber den nicht registrierten Gemeinden in dieser Zeit nochmals verschärft wurde. Obwohl man selbst nicht privilegiert ist, dennoch großzügig zu helfen, darin habe ich in unserer eigenen kleinen Hilflosigkeit die Liebe des Leibes Christi erleben dürfen.

Menschen bewegen – Welt verändern

Bei aller Verheißung stellt sich in den konkreten Zusammenhängen von Kirche, Mission und Ökumene die Frage, wie Gottes liebende Bewegung in der Welt sichtbar ist. Auch mit der 11. Vollversammlung der weltweiten ökumenischen Bewegung hat sich das Angesicht der Erde nicht umfassend gewandelt. Weiter steht die Kirche in ihren vielen unterschiedlichen Sozialgestalten vor den Herausforderungen von Krieg, Gewalt, Hunger, Ausgrenzung, Ungerechtigkeit und vielen anderen mehr. Und häufig ist die Kirche auch ein Teil von all dem, während sie an anderer Stelle ein Zeichen von Gottes Liebe in der Welt ist.

In den letzten Jahren haben wir im Leitungsgremium einer freikirchlichen Missionsgesellschaft über einen Titel diskutiert, der unsere Gemeinschaft und Arbeit als Christ*innen in 26 Ländern unter eine knappe Überschrift stellt: „Menschen bewegen – Welt verändern“. Wir wollen erleben, dass sich Menschen bewegen lassen und sich das Angesicht dieser Welt verändert. In diesem Sinne trifft das Thema von Karlsruhe 2022 ganz das Anliegen dieser Missionsgesellschaft. Es scheint, dass die Bewegung der Liebe Gottes bei verschiedenen Christ*innen weltweit einen Nerv trifft. Darüber hinaus hat das Thema jedoch mehr zu bieten, es kann zu einer willkommenen Korrektur werden. Als weltweite Jesus-Bewegung erfahren wir auf den unterschiedlichen Ebenen von Kirche, Mission und Ökumene immer wieder, dass es nicht unsere Kraft und Fähigkeit ist, welche die Welt im Letzten bewegt, versöhnt und eint.

Der christologische Fokus in Karlsruhe auf den Urheber und Vollender unseres Glaubens, wie es der Hebräerbrief (12,2) formuliert, kann uns vor falschem Triumphalismus und Machbarkeitsdenken bewahren. Und gleichzeitig vermittelt der proklamatorische Charakter Hoffnung und Zuversicht. Es braucht Einheit und Versöhnung und dafür auch Bewegung, aber der Wind im Segel des Schiffs der Ökumene kann nicht einfach von der Bootsbesatzung ins Segel gepustet werden – Jesus Christus selbst bleibt der bewegte Beweger. Er ist es, der uns und diese Welt bewegt, versöhnt und eint.

Von Matthias Ehmann für das EMW-Themenheft 2021


Zur Person

Matthias Ehmann ist hauptamtlicher Lehrbeauftragter für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der Theologischen Hochschule Ewersbach.

Der EMW-Newsletter

Abonnieren Sie unseren Newsletter, um immer informiert zu sein.