Theologische Ausbildung
Die EMW unterstützt und begleitet im Auftrag ihrer Mitglieder ökumenisch-theologische Aus- und Fortbildung in Partnerkirchen weltweit.
Mehr ...Die Faculdade Unida de Vitória setzt in ihrer Ausbildung auf kritisch hinterfragende, aber dennoch von Toleranz geprägte Auseinandersetzung mit Bibel und Theologie. Eine ihrer Professorinnen ist Dr. Claudete Beise Ulrich.
© Foto: Gabriel Rissi/unsplash | Brasilien war einst das katholischste Land der Welt
„In Brasilien gibt es nur wenig Möglichkeiten für eine evangelische theologische Ausbildung“. So erklärt Dr. Claudete Beise Ulrich, Professorin an der Faculdade Unida de Vitória, die Lage im Land. Nordöstlich von Rio de Janeiro liegt der brasilianische Bundesstaat Espírito Santo mit seiner Hauptstadt Vitória. Hier befindet sich die derzeit einzige nicht konfessionsgebundene evangelische Hochschule, die Faculdade Unida de Vitória (FUV). „Es gibt nur wenige andere evangelische Hochschulen, wie etwa die Ausbildungsstätte Faculdades EST der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien oder das theologische Seminar der methodistischen Kirche Brasiliens, die eine theologische Ausbildung anbieten“, so Beise Ulrich.
Die FUV ist ihrem Selbstverständnis nach, die einzige Fakultät, die nicht nur unabhängig ist, sondern auch speziell ökumenische Inhalte lehrt. Alle ihre Kurse und Studiengänge sind staatlich anerkannt – und sie ist kritisch in ihrer theologischen Lehre. In einem Land, in dem sich die religiöse Landschaft speziell in den letzten zwei Jahrzehnten rasant verändert hat, eine wichtige, aber auch herausfordernde Aufgabe.
In den 1980er Jahren waren noch beinahe 90 Prozent der Brasilianer*innen katholisch. Noch 2014 galt es als das katholischste Land der Welt. Heute sieht das deutlich anders aus. Nur noch zwischen etwa 48 und 52 Prozent der Einwohner*innen sind offiziell katholisch. Wie viele von ihnen tatsächlich auch diesen Glauben praktizieren, ist unklar. Es gibt Hinweise, dass sich auch von diesen offiziellen Katholik*innen eine steigende Anzahl anderen Religionen oder Konfessionen zuwendet. Besonders viel Zulauf haben die Pfingstkirchen. Ihr Konzept des Wohlstandsevangeliums, dass Gläubige mit Geld gesegnet werden, wenn sie Gott viel geben, erweist sich als besonders attraktiv. Aber auch andere evangelische Denominationen sowie synkretistische religiöse Mischformen, wie Candomblé und Umbanda finden mehr und mehr Anhänger*innen.
Die größte Bedeutung, auch politisch und gesellschaftlich, haben allerdings die Pfingstkirchen. Diese sind keinesfalls als eine einheitliche Gruppe zu betrachten. Man muss unterscheiden zwischen den etablierten traditionellen Pfingstkirchen, die ihren Ursprung in Erweckungen in den USA und Europa Anfang des 20. Jahrhunderts oder der charismatischen Erneuerung der Volkskirchen in den 1950er Jahren haben und den neu-pfingstkirchlichen (neopentekostalen) Denominationen der sogenannten „dritten Welle“, die sich etwa ab 1970 vor allem in Ländern des globalen Südens auszubreiten begannen.
© Foto: Mateus Campos Felipe/unsplash | Die Pfingstkirchen haben großen Einfluss auf die Politik in Brasilien
In Brasilien fassten die neopentekostalen Kirchen besonders nachhaltig Fuß. Ihr Einfluss wächst stetig, sogar bis in die Medien und die Regierung. Damit einhergehend schwindet zusehends die gegenseitige Toleranz. Und auch die Hemmschwelle für Gewalt scheint zu sinken. Besonders aus den Reihen der Neu-Pfingstler*innen häufen sich Übergriffe auf Andersgläubige, insbesondere die Anhänger*innen des afro-brasilianischen Candomblé sind hierbei betroffen.
In diesem überwiegend konservativ und fundamentalistisch geprägten Umfeld behauptet sich die FUV mit ihrem Anspruch, für alle und dabei kritisch und auf hohem Niveau Theologie und Religionswissenschaften zu unterrichten, immer wieder neu. Denn seit ihrer Gründung 1997, durch drei presbyterianische Pastoren, sind die Herausforderungen eher noch größer geworden. Da sind zum einen die Studierenden, die mit unterschiedlichen Erwartungen an die FUV kommen: Allein 56 Prozent von ihnen sind Pfingstler*innen. Es folgen Baptist*innen, Methodist*innen, Presbyterianer*innen und Katholik*innen. Im Masterstudiengang für Religionswissenschaft kommen zudem noch Angehörige der afro-brasilianischen Religionen Candomblé und Umbanda hinzu. Je nach Vorbildung und religiöser Prägung fällt es nicht jeder*jedem leicht sich der kritisch hinterfragenden, aber dennoch von Toleranz geprägten Auseinandersetzung mit der Bibel und der Theologie zu stellen. Nicht alle bleiben, um sich von neuen oder anderen Sichtweisen herausfordern zu lassen.
Zum anderen ist da die generelle Situation im Land: Noch immer ist gute Bildung für ärmere brasilianische Bevölkerungsschichten schwer zugänglich, was wiederum den Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert. Die gesellschaftliche Kluft wächst so stetig weiter an. Hinzu kommen die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Dr. Claudete Beise Ulrich, Professorin für Genderfragen an der FUV, geht davon aus, dass Brasilien derzeit etwa 40 Millionen Arbeitslose habe. Viele Menschen lebten sogar auf der Straße. Und dann ist da eben noch dieser wachsende Einfluss der Pfingstkirchen in der Politik. Offiziell sind in Brasilien verfassungsgemäß Staat und Kirche getrennt. Mit Präsident Jair Bolsonaro, selbst fundamentaler Christ, verwischt diese Grenze mehr und mehr. Er wird nach wie vor offen von Fernsehprediger und Multimillionär Silas Malaifa und seiner Kirche der „Assembleia de Deus“ (eine der größten evangelikalen Freikirchen Brasiliens) unterstützt. Auch noch weitere evangelikale Kirchen tun dies.
© Foto: Christiane Gebauer/EMW | Dr. Claudete Beise Ulrich ist Professorin an Faculdade Unida de Vitória – Espírito Santo, Brasilien
Für Dr. Claudete Beise Ulrich ist diese Vermischung von Kirche und Politik, wie sie sagt, „sehr problematisch“, denn so sei kaum noch Kritik möglich und die Pfarrpersonen beeinflussten die Gläubigen ihrer Kirchen, auch bei Wahlen entsprechend zu wählen. Im brasilianischen Nationalkongress gehören inzwischen knapp 40 Prozent der Abgeordneten evangelikalen Glaubensgemeinschaften an.
Zudem erkennt Beise Ulrich im Regierungsstil Bolsonaros, seinen Entscheidungen, Argumenten und Taten noch etwas Alarmierendes: „Diese Regierung macht alles im Namen von Christus“. Sie nimmt eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung wahr, die durch die Politik befeuert wird. „Generell nimmt die Gewalt zu: Gewalt gegen Frauen, Gewalt gegen Indigene, Gewalt gegen die Erde, Gewalt gegen den Amazonas – das gehört alles zusammen. Das ist es, was wir – jetzt kommt ein Begriff von Dorothee Sölle – ‚Christofaschismus‘ nennen.“ Schon im Wahlkampf waren Beise Ulrich und andere Theolog*innen von Bolsonaros Slogan „Brasilien über alles und Gott über allen“ alarmiert gewesen. „Das ist nicht biblisch. Gott ist nicht über allen. Gott ist mit uns.“
All das stellt die FUV auch vor Herausforderungen in Bezug auf die eigene Lehre und die theologische Ausbildung, die sie anbietet. Der Auswahl, welche Theologien in ihren Seminaren unterrichtet werden, kommt in dieser Gemengelage eine besondere Rolle zu. Die Faculdade Unida setzt auf Aufklärung, kritische Lesart und Dialog. Claudete Beise Ulrich bringt es so auf den Punkt: „Für mich muss Religion und Theologie da sein, um das Leben zu verkünden und den Leuten die Augen zu öffnen und nicht die Leute blind zu machen oder ihnen Scheuklappen anzulegen. Ich wünsche mir, dass unsere Studierenden mehr Toleranz für diejenigen haben, die anders denken“.
Gleichzeitig versucht die FUV, besonders für die Unterprivilegierten eine gute Ausbildung zu bieten. Deshalb sind viele Kurse abends, so dass die Absolvent*innen tagsüber Jobs nachgehen können, um Geld zu verdienen. Für besonders begabte Kandidat*innen versucht die FUV, international in Kooperation mit anderen Werken (z. B. mit der EMW) Stipendien für weiterführende Studien, etwa im Masterprogramm, zur Verfügung zu stellen.
Die 14 Lehrkräfte der FUV messen einer guten theologischen Ausbildung eine besondere gesellschaftliche Bedeutung zu und haben ein großes Ziel vor Augen, das Claudete Beise Ulrich so beschreibt: „Ich wünsche mir, dass in unserer Gesellschaft eine Veränderung kommt. Ich denke wir brauchen nicht so viele Kirchen. Wir brauchen mehr Gerechtigkeit, Frieden und Arbeit und auch mehr Möglichkeiten für die Armen“.
Tanja Stünckel
Die „Liste des Bedarfs“ ist das Förderprogramm der EMW, das durch Zuwendungen von evangelischen Landes- und Freikirchen getragen wird. Schwerpunkte sind die Förderung von missionarisch-ökumenischen Programmen und Projekten globaler, kontinentaler und nationaler Zusammenschlüsse von Kirchen und kirchennahen Organisationen sowie von theologischer Ausbildung weltweit.
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