Chiles 9/11 und der Schmerz der Kinder

Am 11. September 2023 jährt sich der Militärputsch in Chile zum 50. Mal. 17 Jahre währte die Militärherrschaft, mindestens 3000 Menschen wurden ermordet. Von manchen Verhafteten fehlt bis heute jede Spur. 1990 begann die Aufarbeitung. Doch abgeschlossen ist sie noch lange nicht. Ein Interview mit Claudia Vera und José Horacio Wood darüber, warum es in Chile auch 50 Jahre nach dem Militärputsch keine angemessene Aufarbeitung der Kinderrechts-Verbrechen gibt.

Der Schmerz der Kinder bleibt bislang in der Aufarbeitung nur eine Randnotiz. © Foto: Jürgen Schübelin | Der Schmerz der Kinder bleibt bislang in der Aufarbeitung nur eine Randnotiz.

Der 11. September 1973 gehört zu den Zeitmarken, die in Lateinamerika und weit darüber hinaus ganze Generationen geprägt haben: Zum 50. Mal jährt sich jetzt der mit maximaler Brutalität orchestrierte Putsch des Militärs in Chile gegen die aus demokratischen Wahlen hervorgegangene Regierung unter Präsident Salvador Allende. Die Filmaufnahmen von der nach der Bombardierung durch die chilenische Luftwaffe am Morgen dieses 11. Septembers in Flammen stehenden Moneda, des Präsidentenpalastes mitten in der Hauptstadt Santiago, haben sich in das Menschheitsgedächtnis eingebrannt. Unterstützt wurde dieser Staatsstreich von der US-Regierung und der CIA politisch, finanziell und durch verdeckte Geheimdienstoperationen. Was danach folgte, war der bewusst inszenierte Terror gegen alle, die der Unidad Popular-Regierung angehört, sie unterstützt oder mit ihr sympathisiert hatten. Leichen von Ermordeten ließ das Militär tagelang auf den Straßen liegen, Razzien und Verhaftungen fanden in aller Öffentlichkeit statt. Über die Zahlen der Opfer gibt es bis heute keine absolute Gewissheit: Eine, nach dem Ende der 17-jährigen Diktatur unter General Augusto Pinochet vom ersten – nun wieder demokratisch gewählten – Präsidenten Patricio Aylwin eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission begann, die Einzelschicksale der Ermordeten und vom Regime zum Verschwinden gebrachten Menschen zu dokumentieren: Bislang 3200 Fälle. Noch immer werden Massengräber und weitere Details der begangenen Verbrechen entdeckt. Über 40.000 echte oder vermeintliche Regimegegner*innen gerieten in die Fänge von Polizei und Militär, wurden gefoltert, teilweise jahrelang inhaftiert. Hunderttausende Chilen*innen wurden ins Exil gezwungen.

Über eine Gruppe der Opfer gibt es jedoch nur sehr wenige Informationen beziehungsweise steht die historische Aufarbeitung erst ganz am Anfang: Kinder und Jugendliche, die die Jahre des Staatsterrorismus miterleben mussten – und von ihnen geprägt wurden. Claudia Vera und José Horacio Wood von der ökumenischen Kinderrechtsorganisation Fundación ANIDE – mit Sitz in Santiago – berichten im Interview über den Schmerz der Kinder und das, was die Pinochet-Jahre und ihre Folgen mit ihnen gemacht haben. Vera und Wood haben an dieser Stelle bereits schon einmal in einem Beitrag – vor genau einem Jahr – ihre Beobachtungen und Reflektionen zu dem gescheiterten Verfassungs-Plebiszit vom 4. September 2022 und zur Situation der Kinderrechte in dem südamerikanischen Land geteilt.

José Horacio Wood und Claudia Vera arbeiten für die ökumenische Kinderrechte-Stiftung Fundación ANIDE in Chile. © Foto: Jürgen Schübelin | José Horacio Wood und Claudia Vera arbeiten für die ökumenische Kinderrechte-Stiftung Fundación ANIDE in Chile.

Warum fiel es in Chile in diesen 50 Jahren so schwer, die nie ausgeheilten Verletzungen, die dieser 11. September 1973 und die bleiernen Jahre der Pinochet-Diktatur verursacht haben, aus einer Kinderrechte-Perspektive zu sehen und aufzuarbeiten?

José Horacio Wood (JHW): Leider ist das nicht nur ein chilenisches Problem. Auch in allen Nachbarländern, in denen sich vor fünf Jahrzehnten die Generäle an die Macht putschten – Brasilien, Uruguay, Argentinien – sowie fast allen anderen lateinamerikanischen Staaten, die in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unter autoritären, staatsterroristischen Regimen litten – gestaltete sich die Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen so schwierig und schleppend, dass vor lauter Schmerz der Erwachsenen das Leid der Kinder kaum wahrgenommen wurde. Hier in Chile bilden die Kinder die größte Gruppe der unsichtbaren Opfer. Jahrelang gab es keine systematischen Berichte, die sich mit den Verbrechen gegen sie beschäftigten, keine eigene Untersuchungskommission, die betroffene Kinder und Jugendliche angehört hätte. Im sogenannten Informe Rettig der Wahrheits- und Versöhnungskommission aus dem Jahr 1991 werden – subsumiert unter all den anderen Opfern – 275 Kinder zwischen 0 und 18 Jahren genannt, die vom Regime zwischen 1973 und 1990 ermordet oder zum Verschwinden gebracht wurden. Und der Bericht der nationalen Kommission über politische Gefangene und Folter, bekannt als Informe Valech, zählt 2005 die Fälle von über 2200 Kindern auf, die schwerste Folter erlitten und/oder als politische Gefangene inhaftiert waren.

Claudia Vera (CV): Wir empfinden es als extrem schmerzhaft, dass es in dieser Gesellschaft nie einen Konsens darüber gab, anzuerkennen, was durch den Putsch und das Militärregime vor allem Kindern aus den Armenvierteln – oder auch aus der unteren Mittelschicht – angetan wurde: Bei den brutalen Razzien, die auf den 11. September 1973 folgten, wurden alle über 14-Jährigen, zusammen mit ihren Vätern, Brüdern und anderen männlichen Verwandten aus den Hütten und Häusern gezerrt, gedemütigt, misshandelt und sehr oft interniert. Und als dann die Zwangsumsiedlungen aus den Armenvierteln begannen, die in den Stadtteilen der Wohlhabenden – wie Las Condes oder Vitacura – entstanden waren, mussten Zehntausende von Kindern miterleben, wie schwer bewaffnete Soldaten (Anm. d. Red.: Frauen sind in der Chilenischen Armee erst seit 1974 zugelassen) sie und ihre Familien im Morgengrauen aus den Wohnungen zerrten, ihre Häuser samt all dem verbliebenen Hab und Gut mit Bulldozern zerstörten und die Menschen auf offenen Lastwagen quer durch die Hauptstadt Santiago an weit außerhalb gelegene Orte karrten, wo sie in Zukunft leben sollten. Für alle die, die nicht in Elternhäusern der vom Regime privilegierten Oberschicht aufwuchsen, gilt: Die Kindheit und Jugendzeit einer ganzen Generation wurde durch ständige Angst und das Gefühl, extremer Brutalität und staatlicher Willkür völlig schutzlos ausliefert zu sein, geprägt. Das sind einschneidende traumatische Erlebnisse, die die Betroffenen ihr ganzes Leben begleiten.

Und dann gibt es ja noch die Gruppe der Kinder und Jugendlichen, die mit ihren Familien – oder oft nur einem Elternteil – ins Exil gezwungen wurden. Wie sehen Sie die Folgen der mit diesen Erfahrungen verbundenen Verletzungen und Narben beim Blick auf die nächste Generation?

CV: Dieses Kapitel wurde in der internationalen sozialwissenschaftlichen Literatur sehr viel besser aufgearbeitet. Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Schmerz des Exils, das Erleben der Vertreibung bedeutete für die betroffenen Kinder ganz oft den Verlust ihrer Identität. Auch, wenn viele aus dieser Generation vor oder nach 1990, also dem Ende des Pinochet-Regimes, nach Chile zurückkehrten, konnten sie das Gefühl des Entwurzelt-Werdens, des Nirgendwo-mehr-richtig-Dazugehörens, nie überwinden – mit all den damit verbundenen Spätfolgen – ganz oft in Form schwerer psychischer Erkrankungen. Und klar, heute wissen wir, dass derartige unverheilte Wunden immer auch Auswirkungen auf die nächste Generation haben.

Die Wunden der Militärdiktatur Pinochets ziehen sich durch Genenrationen. © Foto: Jürgen Schübelin | Die Wunden der Militärdiktatur Pinochets ziehen sich durch Genenrationen.

Und für die, die im Land blieben, wie veränderte sich der Alltag von Kindern und Jugendlichen unter dem Militärregime?

JHW: Für Hunderttausende Kinder aus den Armenvierteln und aus Familien mit niedrigen Einkommen bedeutete das eines brutalen Absturzes in Armut und extreme Armut! Nachdem sich innerhalb des Regimes eine Gruppe Wirtschaftswissenschaftler, die sogenannten Chicago Boys, durchgesetzt hatten, Marktradikale, die den Staat in allen Bereichen – mit Ausnahme von Militär und Polizei – zurückdrängen wollten, kam es in Chile Mitte der siebziger Jahre zu einer nie dagewesenen Verelendung der Bevölkerungsgruppe mit den wenigsten Ressourcen, Massenarbeitslosigkeit, Unterernährung und Hunger. Gleichzeitig zerschlug die Diktatur das öffentliche Gesundheitssystem und drängte die öffentlichen Schulen in eine fortan nur noch prekär ausgestattete Nischenrolle. Mit fatalen Folgen! Auch fünf Jahrzehnte danach trennen – im wahrsten Sinne des Wortes – Welten die privat bezahlte Schulbildung von der, die die Kommunen organisieren, genauso, wie es in diesem Land eine Gesundheitsversorgung für den wohlhabenden Teil der Bevölkerung gibt und eine für die, die die Mittel für den Besuch von Privatkliniken nicht aufbringen können.

CV: Zu den – in einem perversen Sinn – „nachhaltigsten“ Folgen des marktradikalen Systems, das das Pinochet-Regime mit Gewalt installierte, gehört, dass eine Mehrheit der Menschen in unserem Land – und das hören wir ganz oft auch von Jugendlichen – überzeugt ist, dass private Kindergärten, private Schulen, private Unis, private Gesundheitsversorgung, private Altersversorgung, immer besser sind, als öffentlich organisierte. Ein weiteres, ganz wichtiges Instrument, das dieses Land gesellschaftlich in den zurückliegenden Jahrzehnten so stark wie nie zuvor veränderte, ist der schuldenfinanzierte Zugang zu Konsum. Selbst Kinder erklären einem, dass nichts dabei sei, Dinge auf Pump zu kaufen, und, wenn die eine Kreditkarte nicht mehr funktioniere, gäbe es ja noch genügend andere. Immer wieder melden sich die Kirchen zu Wort und sagen, dass auf diese Weise das Werte-System in Chile – und natürlich auch das in den anderen Ländern Lateinamerikas, die neoliberale Transformationen durchlitten – verändert wurde. Es herrscht ein extremer Individualismus. Trotz des offensichtlichen Scheiterns der von Finanzkonzernen organisierten aktienbasierten Pensionskassen der AFPs – mit der millionenfachen Folge von Altersarmut und Alterselend – sind es nur wenige, die zurück zu einem solidarischen, öffentlichen Rentenversicherungssystem, so, wie wir es in Chile bis zu Pinochet hatten, wollen. Die Militärs und die Verfechter*innen des neoliberalen „Modells“ haben in Chile die Kultur des „Wir“, des sich Gesellschaftlich-Engagierens und Begriffe wie „Solidarität“ oder Comunidad (Gemeinschaft) immer diffamiert und bekämpft. Leider müssen wir heute sagen: Sie waren damit extrem erfolgreich.

Aber trotzdem kam es 2019 und 2020 zum Estallido Social, zum millionenfachen Aufbegehren gegen eben dieses Modell, mit Millionen Menschen auf den Straßen. Wie passt das zusammen?

JHW: Beim Volksentscheid vom 4. September 2022 über den Entwurf einer demokratischeren, sozialeren Verfassung, die auch den ethnischen Minderheiten im Land endlich die seit der Republikgründung vorenthaltenen Rechte eingeräumt – und auch beim Thema Kindesschutz und Kinderrechte ein neues Kapitel aufgeschlagen hätte, unterstützten nur 38,2 Prozent der Abstimmenden diesen progressiven Vorschlag. 61,8 Prozent lehnten ihn ab. Mit anderen Worten, die Millionen, die während des Estallido Social auf die Straße gingen, sind in diesem Land in der Minderheit.

Noch eine Nachfrage zu den psychischen Spätfolgen der Diktaturjahre und des von den Militärs oktroyierten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells für die Generation der heutigen Kinder und Jugendlichen: Gibt es aktuelle Zahlen zu dem, was Ihr in Chile Salud Mental (dt. mentale Gesundheit) nennt?

In La Victoria erinnert ein großes Mosaik an den von der chilenischen Polizei erschossenen Priester André Jarlan und an ermordete oder verschwundene Nachbar*innen. © Foto: Jürgen Schübelin | In La Victoria erinnert ein großes Mosaik an den von der chilenischen Polizei erschossenen Priester André Jarlan und an ermordete oder verschwundene Nachbar*innen.

JHW: Die chilenische Ombudsstelle für Kinderrechte hat vor wenigen Wochen zusammen mit der Universidad de Chile das Ergebnis einer großen, auf der Grundlage von Interviews mit Kindern an öffentlichen Schulen entstandenen Studie vorgestellt: Demnach sagen 92 Prozent dieser Kinder und Jugendlichen, dass sie in der Vergangenheit oder aktuell unter Depressionen litten; 78 Prozent geben an, sich schon einmal selbst verletzt zu haben; 72 Prozent räumen ein, in ihrem Leben Selbstmordgedanken gehabt zu haben; 72 Prozent sprechen von Erfahrungen mit exzessivem Alkoholkonsum und/oder Drogen und 63 Prozent sagen, dass sie unter Aufmerksamkeits- und Konzentrationsproblemen litten. Was in diesem Land fehlt – und auch das ist eine Langzeitfolge der Diffamierung und Diskriminierung sozialer Arbeit während der Pinochet-Jahre – sind Zehntausende Menschen in den Fächern Kinderpsychologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Sozialarbeit und Sozialpädagogik.

Wie bearbeiten mit den Kirchen verbundene Organisationen, die direkt mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, diesen historischen Jahrestag des 11. Septembers 1973?

CV: Ganz unterschiedlich. Im Projekt Belén El Cobre hat sich das Team in den zurückliegenden Wochen gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen intensiv mit der Geschichte der Erradicaciones, der Zwangsumsiedlungen aus Las Condes nach San Luis de Macúl an die Südostperipherie von Santiago, beschäftigt, die ja auch unmittelbar mit der Entstehung des El Cobre-Zentrums zu tun haben. Und im Kinder- und Jugend-Projekt Nuestra Señora de La Victoria aus dem gleichnamigen Stadtteil der Kommune Pedro Aguirre Cerda im Westen der Hauptstadt, geht es diesem Tag natürlich immer auch um den bei einer Polizeioperation getöteten Arbeiterpriester André Jarlan und die Erinnerung an die Jugendlichen und Erwachsenen aus diesem Armenviertel, die in den Tagen und Wochen nach dem Putsch ermordet wurden – oder von denen seit ihrer Verhaftung jede Spur fehlt. Einen etwas anderen Akzent setzen die Kolleg*innen aus dem Projekt Colectivo sin Fronteras im Stadtbezirk Independencia: Hier steht bei der Beschäftigung mit dem 11. September 1973 der Zusammenhang zwischen den Diktaturjahren, dem extrem nationalistischen Diskurs jener Zeit und dem aggressiv-rassistischen Klima, dem sich Kinder aus Migrationsfamilien heute in Chile ausgesetzt sehen, im Vordergrund. Ganz generell gilt für viele ökumenische Nichtregierungsorganisationen, die in Chile mit Kindern und Jugendlichen arbeiten: Viele der älteren Kolleg*innen in den Teams, Großeltern und Eltern der Kinder und Jugendlichen in den Projekten, haben die Zeit des Militärregimes – aber auch die Jahre der Proteste und des Widerstands – miterlebt, zum Teil sogar selbst Angehörige verloren, Repression und Verfolgung erlitten. Für den Teil der chilenischen Gesellschaft, in dem und mit dem wir arbeiten, ist und bleibt Alles, was mit diesem Datum zu tun hat, eine nie verheilende Wunde.

Das Interview führte Jürgen Schübelin.


Zur Person

Der Anthropologe José Horacio Wood arbeitet seit 1995 bei der Fundación ANIDE (Fundación de Beneficiencia de Apoyo a la Niñez Desprotegida), dem Kindernothilfe-Partner in Chile, und wurde 2001 zum Direktor dieser ökumenischen Stiftung berufen. Seine Kollegin Claudia Vera ist Germanistin und seit 1991 bei ANIDE, bzw. der Vorgänger-Organisation Programa de Menores, als Programm- und Projektkoordinatorin engagiert. Ihr Bruder wurde vom Pinochet-Regime ermordet – und sie mit ihrer Familie gezwungen, nach Deutschland ins Exil zu gehen. Claudia Vera begleitet und betreut seit vielen Jahren auch die Lern- und Freiwilligendienstleistenden des Bündnisses Evangelische Freiwilligendienste in Chile.


Noch ein Hinweis

Auch das Magazin „weltspiegel“ interviewte Claudia Vera zu diesem Thema. Die Sendung wurde im Projekt La Victoria aufgezeichnet und ist in der ARD-Mediathek zu sehen.

Unsere Themen

Erfahren Sie mehr über die Themen und Schwerpunkte der Evangelischen Mission Weltweit.

Der EMW-Newsletter

Abonnieren Sie unseren Newsletter, um immer informiert zu sein.