Warum wir den Iran nicht vergessen dürfen

Am 16. September 2023 jährt sich der Todestag von Jina Mahsa Amini zum ersten Mal. Sie war von der Polizei wegen eines nicht korrekt getragenen Kopftuchs festgenommen worden und wenig später verstorben. Kirsten Wolandt, selbst sechs Jahre Pfarrerin im Iran, verfolgt intensiv die Lage im Land und mahnt: Wir dürfen die Menschen im Iran nicht vergessen.

Der Todestag von Mahsa Amini jährt sich am 16. September 2023 zum 1. Mal. © Foto: Neil Webb/unsplash | Der Todestag von Mahsa Amini jährt sich am 16. September 2023 zum 1. Mal.

Im August berichtete das Zentrum für Menschenrechte im Iran (CHRI), dass im Vorfeld des ersten Jahrestages der Protestbewegung „Woman Life Freedom“ die staatlichen Repressionen gegen Andersdenkende und vermutete Opposition massiv zugenommen haben. „Die iranischen Behörden treiben Aktivist*innen im ganzen Land zusammen, insbesondere Frauen, um der Bevölkerung eine Botschaft der Angst zu übermitteln: Wenn ihr noch einmal aufsteht, werden wir euch vernichten“, beurteilt Hadi Ghaemi, Geschäftsführer des CHRI, die Lage. Mitte August wurden vor allem in Gilan, einer der nördlichen Provinzen, und in Kurdistan 12 Aktivist*innen verhaftet, die meisten davon Frauen. Viele von ihnen hatten Familien besucht, die sich um Gerechtigkeit für die Opfer staatlicher Gewalt bemühen, eine Gruppe mit dem Namen „Justice-seeking families“.

Wir wissen inzwischen sehr viel darüber, wie im Iran Gefangenen grundlegende Rechte verweigert werden: Sie haben kein Recht auf faire Prozesse, Geständnisse werden unter Folter erpresst und systematische Vergewaltigungen in Haft verübt, Kontakte zwischen Häftlingen und Angehörigen werden unterbunden und Familien eingeschüchtert, nicht über ihre Situation zu sprechen, sich nicht an die Öffentlichkeit zu wenden, keine Begräbnisse zu organisieren, keine Bilder zu veröffentlichen.

Die „Sittenpolizei“ ist mit aller Stärke zurück

Auch für die breite Öffentlichkeit hat sich in den letzten Monaten die Situation wieder deutlich verschärft: Nachdem eine Zeitlang vom Rückzug der sogenannten „Sittenpolizei“ gesprochen worden war, ist sie jetzt mit aller Stärke wieder zurück. Ohne Beteiligung und Debatte im Parlament soll eine Verschärfung der Hijabpflicht durchgesetzt werden, die bei Nichtbefolgung Geldstrafen bis zu 5000 Euro vorsieht (im Vergleich: ein Monatsgehalt eines*r Arbeiter*in beträgt etwa zwischen 300 und 400 Euro) sowie Ausreisesperren und Haftstrafen bis zu 15(!) Jahren. In der Gesellschaft wird ein Klima der Angst geschürt. Ganz neu: Eine App, mit der man Frauen melden kann, die ohne Hijab unterwegs sind. Menschen sollen zum Schweigen gebracht werden – mit aller Gewalt.

Druck wird auch verstärkt auf Vertreter*innen anderer Religionen ausgeübt. Dutzende sunnitische Religionsführer wurden inhaftiert, nachdem sie öffentlich die gewaltsame Unterdrückung ihrer Gemeinschaften durch den Staat kritisiert hatten. Gerade in letzter Zeit sind die Anhänger*innen der Minderheit der Baha‘i verstärkten Repressionen und Verhaftungen ausgesetzt. Für viele Angehörige religiöser Minderheiten bedeutet das, möglichst nicht aufzufallen, um nicht in die Konflikte verwickelt zu werden.

Was können wir angesichts dieser Situation tun?

Solidaritätsbekundungen aus dem Ausland mögen wenig erscheinen, aber sie sind wichtig. © Foto: Artin Bakhan/unsplash | Solidaritätsbekundungen aus dem Ausland mögen wenig erscheinen, aber sie sind wichtig.

Das Regime möchte keine Öffentlichkeit. Keine Bilder – daher die massive Einschränkung des Internets. Keine Berichte – daher die Inhaftierung von Aktivst*innen. Keine Vernetzung – daher die Einschüchterung und Vereinzelung aller Andersdenkenden. Was können wir tun angesichts dieser Situation? Diese Frage wurde auch aufgeworfen im 2. EMW-Forum „Diversität und Gender in Mission und Kirche“ Anfang August.

Neben der Forderung an die Politik, Maßnahmen gegen politische Führer und Justiz im Iran zu unternehmen, muss es unsere Aufgabe sein, das Thema Iran und den Kampf seiner Menschen für Freiheit und Menschenrechte in der Öffentlichkeit weiter präsent zu halten. Als Kirchen und Gemeinden können wir das tun in Gottesdiensten und Veranstaltungen, in öffentlichen Gebeten, dadurch, dass wir das Gespräch suchen mit Menschen iranischer Herkunft. Dass wir ihren Geschichten zuhören und ihnen unsere Verbundenheit ausdrücken. Wir können unsere Kirchenleitenden erinnern, dass die Fragen von Menschenrechten und Religionsfreiheit immer wieder neu auf die Tagesordnung gehören.

Das mag uns wenig erscheinen, weil wir gerne aktiver tätig sein wollen, weil wir uns schnellere Ergebnisse erhoffen. Aber es bedeutet etwas für die Menschen hier und vor allem vor Ort: Das Wissen, dass ihr Protest nicht vergessen und daher nicht vergebens ist.

Unterstützung durch Solidarität und Gebete

Die Proteste nach dem Tod von Jina Mahsa Amini zeigen, wieviel Veränderung möglich ist, wenn Menschen sich – über die Grenzen von Gender, Kultur und Religion hinweg – in ihrem Kampf für ihre Rechte zusammenschließen. Denn natürlich hat sich etwas verändert: Es ist ein Bewusstsein gewachsen dafür, dass ein vermeintlich unstürzbares Regime ins Wanken geraten kann. Und dass die Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung von immer mehr Menschen geteilt wird.

Der Jahrestag von Aminis Tod mahnt uns, weiter verbunden zu bleiben und genau hinzuschauen. Gerade jetzt, wo sich bei vielen vor Ort Depression und Ernüchterung, vielleicht Resignation verbreiten, brauchen sie unsere Solidarität und unsere Gebete.

Kirsten Wolandt

Unsere Themen

Erfahren Sie mehr über die Themen und Schwerpunkte der Evangelischen Mission Weltweit.

Der EMW-Newsletter

Abonnieren Sie unseren Newsletter, um immer informiert zu sein.